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Temporäre literarische Verwilderung

Matthias Zschokke scheut sich nicht die Grenzen literarischer Genres zu übertreten. Sein aktuelles Buch, "Lieber Niels" ist eine Veröffentlichung des Mail-Wechsel zwischen dem Autor und Niels Höpfner, ein Schriftstellerkollege und Freund.

Von Cornelia Staudacher | 27.06.2011
    In seiner Schreibwerkstatt im "wilden Weddinger Norden" ist Matthias Zschokke zu einem Meister des poetischen Erzählens geworden. Die prosaischen und theatralischen Exkursionen, die hier entstanden, handeln von hypersensiblen, melancholisch vor sich hin brütenden, an sich und der Welt zweifelnden und doch von hoch fahrenden Erwartungen träumenden Existenzen. Sie scheinen nicht ganz von dieser Welt zu sein; sie leiden nicht nur unter der Trivialität des Alltags, sondern auch an ihren eigenen Unzulänglichkeiten und emotionalen Überhitzungen.

    Wie der Dichter selbst, der, wie wir jetzt wissen, seit 30 Jahren einen regen Briefwechsel mit einem Schriftstellerkollegen führt. Niels Höpfner ist zehn Jahre älter als Matthias Zschokke, lebt in Köln, hat selbst Prosa, Theaterstücke und Kritiken geschrieben und gibt, wenn man ihn heute fragt, als Berufsbezeichnung "Freund" an. Über 3000 Briefe und Faxe und Tausende von Mails zeugen mittlerweile von der Lebensfreundschaft dieser beiden "excessiven Kommunikatoren", wie Höpfner sie in seinem kurzen Vorwort nennt.

    "Dieser Niels hat irgendwann so nach zehn Jahren gesagt, dass er alles aufbewahrt, ganz akribisch, wie ein Archivar, germanistisch korrekt. Ich hab gedacht, der ist verrückt, das ist nicht interessant, wenn einer so viel Briefe schreibt. Ich hab ihm immer freier geschrieben, weil ich wusste, das ist inflationär, das kann nie was werden. Und der hat nicht nachgelassen. Und irgendwann hatte er offenbar das Gefühl, ich sei ganz am Ende, und hat sich in einer titanischen, ungeheuren Anstrengung zusammengerissen und alles hintereinander gehängt, die ganzen Mails, und hat dann irgendwann eine ungeheure Menge zurückgeschickt und gesagt, das bist du, das ist dein Werk, schau’s Dir mal an, das waren 1600 Seiten ungefähr."

    Der vorliegende Band enthält ausschließlich Zschokkes Mails aus den Jahren 2002 bis 2009 – mal längere, mal kürzere pointierte Beschreibungen seiner Erlebnisse, Gedanken und Befindlichkeiten. Niels Höpfner, Urheber auch der ebenso interessant gestalteten wie informationsreichen Website "Ein sanfter Rebell", fungiert dabei als imaginärer Briefpartner, der die Korrespondenz in permanentem Fluss hält, indem er ermuntert, widerspricht, provoziert, Denkanstösse gibt.

    "Ich hab es wunderbar, muss aber eben auch dazusagen, dass das natürlich auch von meiner Seite genauso eine Arbeit ist wie von seiner Seite. Das ist sehr viel Zeit, was das uns kostet, wir schreiben uns fast jeden Tag, und das hat was fast Besessenes, also man ist da sehr nah aneinander dran. Er schreibt auf seine Art, sehr diszipliniert. Eins der wichtigsten Punkte ist, dass immer eine Antwort kommt, die eigentlich wieder etwas erfordert. Ich hab das Gefühl, dass der ja auch steuert, er schickt mir zum Beispiel ein Buch, weil er findet, lies das mal oder weil er irgendwie kichernd in Köln sitzt und denkt, jetzt regt der sich mal wieder auf, oder er schickt mich in einen Film und hat dadurch natürlich einen unheimlichen Einfluss darauf, was als nächstes kommt. Oder er hat eine Überzeugung, die er mir versucht zu vermitteln, politisch oder so, wo ich mich furchtbar aufrege, und dadurch reagiere ich."

    In die Zeit der Korrespondenz fällt das Erscheinen des Romans "Maurice mit Huhn", dessen stockende Rezeption dem Autor immer wieder Anlass zur Klage gibt. Die Leitung eines Schreibkurses an der Berliner UdK wird für den geplagten Dichter zu einem aberwitzig selbstkasteienden Unterfangen und auch die Zeit als Stipendiat in Budapest ist kein reines Vergnügen.

    Und was geht ihm nicht alles durch den Kopf: Der Konsumterror: "mitten auf der Bahnhofstraße in Zürich, im Vorweihnachtsgetümmel, droht er einen manchmal zu packen, der Irrsinn"; oder die erdrückende Informationsflut: "Ich muss sofort eine Viertelstunde klassisch morgenlesen, um wieder zur Vernunft zu kommen". Als Theaterliebhaber beklagt er den Verfall der öffentlichen Theater: "Ich schmelze hin im Theater. Aber nur in diesem tingeltangeligen, nicht im Beamtentheater"; und mit großem Ärger beobachtet die unaufhaltsame Verflachung der Literatur durch ihre wachsende Abhängigkeit vom Markt und die Korrumpierbarkeit mancher Kollegen: "Wahrscheinlich fällt es leicht, sich zu ändern: Für Geld wird man gütig."

    "Es ist mir wichtig, ich bin ja drin. Und insofern muss das vorkommen in dem Buch. Es gab früher mal die Künstlerromane, das lasen wir gern. Ich las gern ‚Anton Reiser’ oder ‚Der grüne Heinrich’, der Künstler werden will und irgendwie nicht ankommt. Und jetzt habe ich im Grund genommen das gleiche getan, indem ich am offenen Herzen quasi experimentiere, also ich sitz nicht mehr außen vor, sondern ich lass die Versuche an mir selbst stattfinden und beobachte, was da passiert. Und natürlich das betrifft mich ganz stark und ich habe natürlich diese Wut, wenn ich das Gefühl habe, so geht’s nicht weiter.
    Die Verwilderung ist aus der Romantik ein Begriff, den hab ich mal irgendwo gelesen und auf mich angewendet, weil ich ihn brauchbar finde, und weil ich glaube, dass wir momentan eine ganz wahnsinnig geschliffene Art des Erzählens pflegen und meinen, jetzt sind wir so gut wie die anderen, wir können’s jetzt endlich, und ich finde, das ist nicht unbedingt das Ziel von Literatur, dass wir das auch können, sondern wir müssen das wieder aufbrechen; wir sollten wieder etwas mehr verwildern im Erzählen."

    Das Buch ist ein kongeniales Beispiel für eine solch temporäre literarische Verwilderung, sowohl formal als auch in seinen wechselnden Stimmungen.

    Wut, Zorn und Spott wechseln mit überschwänglicher Begeisterung, Jubel oder einem stillen Glücksempfinden, zum Beispiel wenn sich der Dichter auf dem Marktplatz von Imperia vor einem duftenden Espresso imaginiert. Er schimpft und schwärmt, grummelt und jubelt, liebt und hasst, verurteilt und lobt mit gleicher Emphase.

    "Es hat eine Tendenz zum Superlativischen, also ich bin immer völlig begeistert oder ich bin wahnsinnig baff, und würde das vielleicht, wenn ich’s ganz übersetzen würde in Literatur, anfangen noch zu kappen die Spitzen. Diesen Rohzustand habe ich versucht zu erhalten. Das hat ja auch mit einem literarischen Anspruch zu tun, dass, wenn man eine Form ausprobiert, dann muss man die auch bis ans Ende ausprobieren. Ich kann da nicht irgendwo aufhören und sagen, ne das lass ich mal weg, das ist zu viel."

    Da werden Richard Wagner, Einar Schleef, Rainald Goetz in einem Aufwasch als "Luftblasen" bezeichnet, Judith Hermann des Abschreibens geziehen, Peter Stamm als "argloser Stimmenimitator" gescholten und das Heranwachsen einer ganzen Generation von Nachahmern beklagt. Freud wird als "Einfaltspinsel" und "Langweiler" gebrandmarkt, Botho Strauss als Poseur und Raoul Schrott als Streber abgekanzelt. Auch die Kritiker bekommen ihr Fett ab, wenn gefragt wird: "Können sie leichter lieben, was sie schon kennen? Beruht die Ostermaierbegeisterung auf Wiedersehens-freude?" Yasmina Rezas Erfolgsstück "Drei Mal Leben" sei "brave Konfektion" und die zeitgenössischen Theaterautoren entpuppten sich als "Installateure und Eventmonteure".

    "Die großen Namen, da hab ich kein Problem. Da mach ich mich ja höchstens lächerlich, da sagen die Leute, der hat ja keine Ahnung, der soll die erst mal lesen. Problematischer finde ich’s bei Kollegen, die noch leben und auch nicht unantastbar weit oben sind, sondern die mit mir mühsam sich durchs Leben schlagen, und dann kriegen sie noch eins von mir ans Schienbein. Das finde ich eigentlich schade, u.a. finde ich es aber auch lustig, wenn man lachen könnte. Ich weiß nicht, ob ich lachen könnte, wenn man von mir sagt, ich bin ein Depp; ich kann’s, wenn ich finde, ja, wenn der das sagt, ist es mir egal. Das kommt ja auch noch dazu, dass es sicher Leute sind, die dann finden, der Zschokke ist selber ein Depp."

    So wenig zimperlich er im Austeilen ist, so wenig schont sich der Dichter selbst. In seinen Selbstzweifeln und Rückzugstendenzen fühlt er sich Melvilles Bartleby verwandt, dessen Satz "I would prefer not to", salopp übersetzt: lieber nicht, er nur allzu gut versteht.
    Dem Lamento aber gibt sich der Dichter nicht hin. Vielmehr unterminiert er die melancholische Grundstimmung raffiniert durch witzig-maliziöse, ironisch-augenzwinkernde Abschweifungen. Bitterkeit kommt nicht auf, Neid gelegentlich, den er sich dann nicht scheut, offen einzugestehen.

    Wie seine Protagonisten ist Matthias Zschokke ein Romantiker, der an das Gute, Wahre, Schöne nur allzu gern glauben möchte, aber um die menschlichen Schwächen und alltäglichen Malaisen nur allzu gut weiß. Ja, er ist wahrhaftig einer von ihnen, und Niels hat die Rolle des Initiators übernommen, die sonst dem Dichter zukommt. Wie die Figuren in Zschokkes Romanen mit dem Autor kokettieren, indem sie ihn in ein Zwiegespräch verwickeln, so betätigt sich nun Niels als imaginärer Moderator der Selbst- und Welterkundungen des hellwach beobachtenden und seine Beobachtungen und Empfindungen gewitzt reflektierenden Dichters: Die Phantasiestücke in Zschokkescher Manier sind in ihrer subversiv-anarchischen Leichtigkeit, ihrer entwaffnenden Integrität und ihrer suggestiven Kraft geeignet, auf äußerst vergnügliche Weise den Blick und das Bewusstsein des kulturell interessierten Lesers zu schärfen.

    Matthias Zschokke: "Lieber Niels", Wallstein Verlag, Göttingen 2011, 761 Seiten, 29,90 Euro