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Tendenzen im Regietheater

Wenn Regisseure in ihren eigenen Inszenierungen auftreten, ist das ein ziemlich pathetischer Augenblick. Meist signalisiert der persönliche Einsatz: Hier geht es um eine Herzensangelegenheit.

Von Eva Behrendt | 27.05.2007
    Einar Schleef beispielsweise stellte sich in seiner überlangen Inszenierung des "Sportstücks" demonstrativ auf den bühnenbodengroßen Jelinek-Text, um der Burgtheaterdirektion noch eine weitere Stunde Spielzeit abzutrotzen. Zehn Jahre später kommt auch der Regisseur Nicolas Stemann am Schluss seiner Jelinek-Inszenierung "Ulrike Maria Stuart" auf die Bühne, ist notdürftig mit einer Zopfperücke als die Autorin verkleidet, und kreist auf der leeren Drehbühne ein paar Runden um sich selbst.

    Zuvor hat Stemann zwei Stunden lang Elfriede Jelineks RAF-Text, der sich von einer Ambivalenz zur nächsten hangelt, in kleinteilige ironische Bühnennummern verwandelt. Er ließ seine Schauspieler buchstäblich wie beim Kinderspiel in den Untergrund springen, und die Zuschauer in den ersten Reihen durften Wasserbomben auf Roland Koch, Claus Peymann und Klaus Wowereit schleudern, die als Pappfiguren auf der Bühne stehen. Anschließend sollte niemand mehr glauben, Meinhof und Ensslin hätten die besseren Verbrechen begangen, weil es ihnen um Utopie und Weltverbesserung ging.

    Doch wo stehen Stemann und Jelinek eigentlich selbst? Steckte hinter all der Ironie, Reflexion und Kritik überhaupt eine eigene Position, außer der, sich kreisförmig um ein leeres Zentrum zu drehen?

    Der inszenierte Leerlauf von Nicolas Stemann trifft bei mir einen Nerv. Es berührt mich, dass Stemann am Ende der Inszenierung von seinem Mangel an eigener politischer Fantasie spricht - und seinem Unbehagen daran. Man hätte sich eigentlich gleich dazu setzen können.

    Doch noch etwas wurde mir während des Zuschauens klar: Ironiegestus und Kindergeburtstagsallüren können zwar immer noch treffliche Analyseinstrumente sein, haben sich aber als alleinige ästhetische Mittel totgelaufen. Das Kommentieren, Zitieren und immer Bescheidwissen, das Bloß-keine-Geschichte-Erzählen und Nur-keine-mit-sich-identische-Figur-auf-die-Bühne-Stellen, also sehr vieles von dem, was das Pop- und Regietheater ausmacht, erschöpft sich, sogar bei Stemann, in Dekonstruktion. Und doch scheint am Ende, als Kommentar auf die eigene Inszenierung, eine Sehnsucht nach Konstruktivität, nach Pathos auf.

    Pathos, Ekeltheater

    Stemanns Leerlauf bringt auf den Punkt, was am Regietheater problematisch ist: Die großen Trümpfe des kritischen, intellektuellen Theaters können zum Fluch werden. Wer jedoch zu allem Distanz hält, auch zu sich selbst, landet irgendwann in der Sackgasse einer zynischen Vernunft. Wer sich durch Ironie vor jeder Festlegung flüchtet, ebenfalls. Und wenn vor lauter Dekonstruktion kein Inhalt mehr übrig bleibt, kann es passieren, dass selbst die kritischsten Intellektuellen sich nach etwas identitätsstiftendem Pathos, nach einem konstruktiven Entwurf oder einem Theater der Erfahrung sehnen.

    Nun steht der Stimmungszeiger in Deutschland ohnehin leicht auf Pathos. Die kritisch beobachtete Wiederkehr des Pathetischen gehört zum Prozess einer Bewusstseins-Normalisierung nach Weltkrieg und Wiedervereinigung. Was die kritische Theorie der Frankfurter Schule lange Zeit unter Pathosverdacht gestellt und für hohl erklärt hatte, ist so langsam wieder möglich. Bei Fußballweltmeisterschaften darf die Hymne gesungen, im Fernsehspielfilm der Bombenkrieg zu gefühliger Unterhaltung werden. Das Abflauen der deutschen Pathosallergie entspricht aber auch der Haltung eines Bürgertums, das sich gerade wieder etwas selbstbewusster nach unten glaubt abgrenzen zu müssen. Dazu passt, dass man auch wieder ins Theater geht, um Geschichte und Geschichten zu tanken und sich einer reichen kulturellen Vergangenheit zu versichern.

    Aus dieser Ecke kam letztes Jahr auch die Debatte um das so genannte "Ekeltheater". Der "Spiegel"-Kulturchef Matthias Matussek, Autor des Buchs "Wir Deutschen", behauptet immer noch standhaft, dass er sich "lieber auf hohem Niveau" bei Peter Stein langweilt, als ins triviale "Krawalltheater" zu gehen. Und Krawalltheater ist in Matusseks Augen fast alles, was nicht Stein oder Zadek ist.

    Um das zu beweisen, schickte er den bekennend ahnungslosen Reporter Joachim Lottmann auf eine Reise durchs deutsche Stadttheater. Lottmann, wie Matussek ein hartgesottener Zyniker, kehrte mit einer Kriegsberichterstattung zurück, die den Leser das Gruseln lehrte: Im Gewitter "gnadenloser Scheinwerfer" hatte Lottman "Alte und Gebrechliche" aus Jürgen Goschs "Macbeth" flüchten sehen - "manche weinten".

    Christopher Schmidt von der "Süddeutsche Zeitung" leistete Schützenhilfe: "Nackt im Regen steht heute nur noch der deutsche Schauspieler: Vollgeschmiert und aus Kübeln übergossen, die Stimme übertönt von Pop-Songs, das Gesicht überschattet von Videoclips, spielt er das Lachhafte der eigenen Trash-Existenz gleich mit."

    Volksbühne, Poptheater

    Wer denkt da nicht sofort: "Volksbühne"? Tatsächlich hat ausgerechnet das Berliner Ost-West-Haus, das in den 90ern das Regietheater am stärksten geprägt hat, in den letzten Jahren einen heftigen Aura-Einbruch erlitten. Frank Castorf hat den Osten, den Westen, den Kapitalismus in alle Himmelsrichtungen dekonstruiert. Zwar hatte er sich mit der Einführung der Videokamera-Ebene in die Inszenierungen der Dostojewski-Romane und Tennesse-Williams-Stücke noch einmal neu erfunden. Doch ob dann Jonathan Meeses das Bühnenbild entwarf oder ob Castorf es mit Brecht versuchte, war unwichtig. Am Ende war es doch immer das gleiche trashige Kleinbürgertum Marke Ost, das mit großer Klappe durch die Containerbühnen von Bert Neumann tobte.

    Auch Christoph Marthalers Musiktheater und Christoph Schlingensiefs politische Aktionskunst, die rasant zwischen Spiel und Realität hin und herschlingerte, hatte in den 90er Jahren den Ruhm der Volksbühne gemehrt. Heute sind beide auf den internationalen Opern- und Kunstmarkt abgewandert und schauen nur noch auf Stippvisite vorbei.

    Dennoch: Die Spielweise des hysterisch-exzentrischen Ensembles hat Schule gemacht. Ebenso die gedankliche Wachheit, mit der Volksbühnen-Dramaturgen gesellschaftliche Themen erkannten und in Theater übersetzten. Bert Neumanns White-Trash-Ausstattungen inspirierten Bühnen- und Kostümbildner im ganzen Land. Gleichzeitig war ein hippes Insider-Wissen entstanden, das sich warm und besonders anfühlte.

    Ideen verwandeln sich in Routine, Aufbrüche erstarren und gerinnen zu Mythen. Das ist normal, Künstleralltag. Auch dem "coolen Theaterwissen" - frei nach Diedrich Diederichsen, - ist es so ergangen. Es schwappte in den 80ern und 90ern von den Universitäten in die Theater, gedieh in der Freien Szene, vermischte sich schließlich mit der Regie-Praxis an den Stadttheatern. Es arbeitete an der Abschaffung der Figur, der Geschichte, des Autors, der Sprache und dem Theater als Institution. Kurz: an all jenen "Konstruktionen" der Moderne, des Bürgertums und des Kapitalismus, die der philosophische Diskurs nach 1968 für ideologisch hielt.

    So wurde, statt aus dem hochkulturellen Kanon, aus den Archiven der Pop- und Alltagskultur zitiert, Umgangssprache und Popmusik, Formate der Unterhaltungsmedien, des Glamour und manchmal auch Kasperltheater in die Aufführungen integriert. Theorien und Konzepte ersetzten das Drama, statt eines Regisseurs gab es plötzlich Regieteams. Was dagegen die anderen im Theater noch trieben, stand schnell unter dem Etikett: Pathosverdacht.

    Die neuen Theatermittel-Moden brachten Bewegung in die stets bräsigkeitsgefährdete Theaterlandschaft. Mancher Kritiker gab schon bei frischer Brise Sturmwarnung. Gerhard Stadelmaier etwa geißelte das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, an dem das "coole Theaterwissen" gelehrt wurde, als "Unglücksschmiede des deutschen Theaters". Dabei entstanden gerade in Gießen Formate, die ganz konstruktiv zu neuen Theaterästhetiken führten.

    René Pollesch schrieb Theatertexte, in denen es weder Figurenpsychologie noch Handlung gab. Dafür wurden, gar nicht unpathetisch, Gefühlswelten in kapitalistischen Ökonomien diskutiert. Andere gründeten Band-artige Kollektive, die Spiel- und Castingshows auf die Bühne brachten. Aus Klassiker-Inszenierungen konnten auch plakativ bunte Abende werden, die sich im Vorführen pop-theatraler Mittel erschöpften. Zugleich wurden aber intelligente neue Lesarten möglich. Sie bezogen gesellschaftliche Wirklichkeit mit ein, für die die alten Theatermittel keine Sprache fanden: Stefan Puchers Hamburger "Othello" erzählte mit Shakespeare eine politische Geschichte der Popmusik, Nicolas Stemanns Hannoveraner "Hamlet" drehte in einer neoliberalen Medienwelt durch. Die Schweizer Regisseurin Barbara Weber wählte den umgekehrten Weg und verwandelte Mainstream-Filme und Pop-Mythen in witziges und sehr handgemachtes Theater, das sie "unplugged" taufte.

    Neue Wege

    Natürlich sind auch die Praktiken des Poptheaters nicht davor gefeit, sich zu wiederholen oder in einer Sackgasse zu landen. Wenn sich ihr ursprünglich ideologiekritischer Gestus entleert und zum Stil wird, fällt es schwer, dahinter noch eine politische Absicht wahrzunehmen. Und welche könnte das auch sein? Poststrukturalismus und Theorie haben schließlich ähnlich an Relevanz eingebüßt wie die großen Gesellschaftstheorien und Welterklärungsmodelle von Marx bis Luhmann. Theorie-Wochenenden, das große Ding der Volksbühne um die Jahrtausende, macht heute auch keiner mehr. Dann lieber gleich konkrete Politik.

    Unsinn ist jedenfalls, im "nackten, voll geschmierten Schauspieler", den die Süddeutsche Zeitung" so mitfühlend bejammert, das Insignum des Regietheaters zu sehen. Schon immer wird jenseits von reiner Dekonstruktion Theater gemacht. Außerdem werden zwischen poptheatraler Dauerironie und dem Pathos der Einfühlung längst neue Wege beschritten, auf denen der Gegensatz zwischen Pathos und Ironie sich selbst aufgehoben hat.

    Die beiden Richtungen, in die das Theater jetzt auseinanderdriftet, sind die der Wirklichkeits-Erfahrung und die der Kunstwelten. Die einen tendieren zur Wirklichkeit, zu realen Biografien, Schicksalen und Erfahrungen, die sich tatsächlich auf der Bühne ereignen. Die anderen favorisieren die künstlerische Zuspitzung und Verdichtung in bildstarken Atmosphären und artifiziellen Räumen, wie sie zum Beispiel Michael Thalheimer betreibt.

    Kunstwelten, Gedenken

    Mit radikalen Strichfassungen, monumentalen Räumen, suggestiver Bühnenmusik und artifiziellen Schauspielergesten versucht Thalheimer, den zeitlos existenziellen Kern der Klassiker freizulegen. Was davon übrig bleibt, darf in seine Kunstwelt. Die besteht zumeist aus einem einzelnen abstrakten Objekt, einem gewaltigen Kessel oder einer steilen Schlucht, die sein Bühnenbildner Olaf Altmann auf leerer Bühnen errichtet. Davor schrumpfen die Figuren schon von allein zu Kreaturen, sind körperlichen Ticks und Zuckungen ebenso ausgeliefert wie dem Lauf ihres dramatischen Schicksals. Humorlosigkeit gehört nicht zu Thalheimers Stärken. Von Brechts "Puntila" bleibt bei ihm weder Klassenkampf noch Lehrstück übrig, nur eine sakral glühende Kupferwand. Und in seiner Kunstblut-überströmten "Orestie" am Deutschen Theater kappt er sogar den letzten Teil, die "Eumeniden" und zeigt damit der versöhnenden demokratischen Ordnung die fatalistische Schulter.

    Auch Andreas Kriegenburg ist ein Baumeister eigenwilliger Kunstwelten, die er klassischen wie zeitgenössischen Stoffen entgegensetzt. Schon seit Jahren erfindet er für jede Inszenierung das Theater neu. Am ehesten gelingt es ihm, wenn er die Bühnenbilder selbst entwirft: Für Ingmar-Bergmans Psychogramm eines Frauenmörders sperrt er blühende japanische Kirschbäume und eine nackte Geisha hinter rote Gitterstäbe. Das verheißt schwüle Traumwelten, fernöstliche Opulenz und ist doch nötig, um auf den folgenden Seelenstriptease vorzubereiten. Und der wiederum ist erträglich, weil das Hamburger Thalia-Ensemble das Psycho-Drama immer wieder mit Schlagfertigkeit und Anti-Psychologie ausnüchtert.

    In den Münchner "Drei Schwestern" streckt ein tierhafter Leuchter seine Greifarme von der Decke in einen schmalen Sperrholzraum, der über und über mit Wunschzetteln gepflastert ist. "Von Wünschen voll, im Herzen leer", lautet das durchaus gefühlige Motto der Inszenierung. Kriegenburg rückt die Schwestern dem Zuschauer nicht näher, sondern ferner. Sie driften nicht unbedingt in eine historische Vergangenheit, eher an einen utopischen Ort. Dort tragen die Geschwister schwingende, cremefarbene Kleider wie aus der Puppenstube. Auch die kürbisgroße Puppenkopfmasken, die sie immer wieder aufsetzen, signalisieren: Dies ist Kindheitsort und Geisterreich zugleich. Denn Kriegenburg sieht in Tschechow vor allem den Totengräber einer verschwundenen Epoche, eines verlorenen Menschenschlags, den Bildung und Empfindsamkeit auszeichneten. Um ihren Verlust trauert er ähnlich, wie die drei Schwestern um den Verlust ihrer Kindheit.

    Zwischen Kunstwelten-Schöpfern und Wirklichkeitsforschern ist der 39-jährige Jan Bosse ein Zwitter. Manchmal möchte man fast glauben, Jan Bosse hätte sich die Vorwürfe der Ekeltheaterdebatte ernsthaft zu Herzen genommen. Theaterblutüberströmte Nackte kommen bei ihm ebenso wenig vor wie Trash-Exzesse, strenge Formalismen oder allzu detaillierte Aktualisierungszeichen. Einerseits vertraut er zutiefst dem bürgerlichen Theater und seinen ältesten Mitteln, den überlieferten Dramentexten und seinen Schauspielern. Andererseits machen er und sein Bühnenbildner Stephan Laimé die Bühnen zu Erfahrungsräumen fürs Publikum: Im Hamburger Faust befand sich Mephisto Joachim Meyerhoff auf einer Talkshow-Drehscheibe unter den Zuschauern, während Edgar Selge als Faust sich aus Reihe 3 erhob. Im Züricher "Hamlet" nimmt das Zuschauer-Volk an langen Tafeln in einem Festsaal voller erblindeter Spiegel Platz und wird so Teil der Aufführung.

    Bosse legt großen Wert darauf, zu verstehen und verstanden zu werden. Er und seine Schauspieler gehen akribisch vom Text aus. Wochenlang können sie an der idealen Neu-Übersetzung eines Shakespeare-Kalauers frickeln oder mit an der Strichfassung arbeiten, die einen 300 Jahre alten Briefroman wie den "Werther" frisch und lebendig erscheinen lässt. Diese Arbeit am Text und am Verstehen schlägt die Brücke in die Geschichte, in der sich Bosse verorten will. Im großräumigen, manchmal holzschnitthaften Züricher "Hamlet" reflektiert Bosse geschickt den Wunsch, sich durch alte Erzählungen der eigenen Identität und Präsenz zu versichern.

    Joachim Meyerhoffs hyperaktiver Hamlet spielt nicht nur immer wieder in seinem privaten Theater den Mord an seinem Vater durch. In einem sinnig hinzuerfundenen Schluss hinterlässt nach dem Vater auch der Sohn die Botschaft, dass man seiner gedenken und immer wieder von ihm erzählen soll.

    Erfahrungen im geschichtslosen Raum

    Ob Jürgen Gosch manchmal das Gefühl hat, nach dem Ende der Geschichte zu leben? Zumindest hat er, geboren1943, drei deutsche Systeme bewusst miterlebt: die DDR, in der er aufwuchs, die Bundesrepublik, in die er abwanderte, und das wiedervereinigte Deutschland, in dem er während der 90er Jahre solides Stadttheater ohne größere Resonanz inszenierte. Mag sein, dass auch Gosch sich einmal gegrämt hat, dass mit den großen politischen Ideologien auch die Utopien verschwunden sind. Seit vier Jahren hat man jedoch eher den Eindruck, dass er ihre Abwesenheit als Befreiung empfindet. Er hat die Erfahrung der Geschichtslosigkeit zum Motor für die wohl radikalste Bühnenkunst gemacht hat, die zur Zeit im deutschsprachigen Raum zu sehen ist.

    Wie ein ganz normaler Stadttheaterregisseur inszeniert Gosch zeitgenössische Stücke, mit Vorliebe Yasmina Reza und Roland Schimmelpfennig. Aber er bemüht auch immer wieder den historischen Kanon mit Gorki, Tschechow und vor allem Shakespeare. Insbesondere die Klassiker reinigt er tatsächlich von jeder Geschichte, bis von ihnen nichts als reine Gegenwart bleibt. Dazu braucht er nur die einfachsten Theatermittel: Bühne, Schauspieler, Text, Licht und ein paar Requisiten. Die einfachen Holzkästen, die Johannes Schütz ihm baut, sind erfahrungslose Gefängnisse, geschlossene Labore, Räume ohne Geschichte, in die jedoch ein Zeitmaß eingebaut ist: Sand, der durch die Decke auf einen Haufen rieselt, ein Fenster, das im Hintergrund von rechts nach links wandert, ein Bügel, der sich wie ein Zeiger dreht. Die Schauspieler kommen in Alltagsklamotten aus dem Publikum. Dann geht es los.

    Ob in Tschechows "Drei Schwestern", in Shakespeares "Macbeth" oder "Wie es Euch gefällt": Gosch bringt seine Schauspieler dazu, ihr Rollenspiel als Nebensache zu betrachten und sich stattdessen auf eine unmittelbare Erfahrung einzulassen. An ihr hat, wenn auch nicht physisch, auch das Publikum teil. Das klingt esoterischer als es ist. Durch einfachste Tätigkeiten stellen die Schauspieler im Raum eine polyphone Unordnung her: optisch, indem sie ein paar Dutzend Baumäste oder Stühle durch den Kasten tragen, Äpfel zerquetschen, Mehl oder Kunstblut verteilen. Akustisch und gestisch, indem sie sich etwa in Bäume oder Schafe verwandeln. Und emotional durch die ungeschützte Brutalität, mit der die Körper aufeinanderprallen. Alles steht gleichwertig nebeneinander, entwickelt seine eigene Melodie.

    Auch der dramatische Text ist, obschon sorgsam neu übersetzt, eine Stimme unter vielen. Goschs Theater erinnert das Publikum permanent daran, dass es einem Prozess beiwohnt, der in einem Raum Zeit verbraucht. Manchmal fragt man sich ernsthaft besorgt, ob Goschs seine Schauspieler nicht allzu kühl als Material benutzt. Nicht jeder erreicht das Ende unversehrt. Doch die beschädigten Körper und unsere Eindrücke sind so lebendig wie lange nicht mehr.

    Echte Menschen

    Noch radikaler als Erfahrungsraum und Versuchsanordnung kann das wirkliche Leben auf der Bühne funktionieren. Damit spielen die neuen dokumentarischen Theaterformen, die sich in den letzten Jahren entwickelt haben. Nach der Freien Szene widmen sich jetzt auch die Stadttheater dem Theater mit Laiendarstellern. Viele Projekte gehen auf Bildungs- und Integrationsinitiativen zurück.

    Alzheimerkranke, Gefängnisinsassen, Jugendliche mit migrantischem Hintergrund oder polnische Rentner werden auf die Bühne geholt, und meistens geht es mehr um politische und soziale als um ästhetische Statements. Interessanter wird es, wenn ganz normale Bürger plötzlich in einer Klassikerinszenierung auftauchen. Der Regisseur Volker Lösch hat das inzwischen zu seinem Markenzeichen gemacht. Für Hauptmanns "Weber" holte er gleich zwei Dutzend arbeitslose Dresdner auf die Bühne des Staatsschauspiels, die dort nach Herzenslust und im Chor ihren Hass auf Hartz IV, den Staat und Sabine Christiansen ins Publikum brüllen durften. Und in Stuttgart inszenierte Lösch "Faust 21" mit einem Bürgerchor.

    Eigentlicher Auslöser des Laien-Hypes war aber das Regiekollektiv Rimini Protokoll. Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, allesamt bei den erwähnten Gießener Theaterwissenschaftlern ausgebildet, inszenieren keine Dramentexte, sondern die Ergebnisse von Recherchen, die man sich irgendwo in der Grauzone von journalistischer Reportage und kulturwissenschaftlicher Hausarbeit vorstellen muss.

    Und weil zur Recherche die Befragung von "Experten" gehört, stehen bei Rimini Protokoll keine Schauspieler, sondern echte Menschen auf der Bühne, die etwas zum Thema etwas zu sagen haben. In "Blaiberg & Sweetheart 19" berichten Herztransplantationspatienten, Heiratsvermittler und Schweinzüchter von ihren Erfahrungen mit dem Herzen und seinen verschiedenen Funktionsweisen. In "Wallenstein" wurde kaum Schiller gesprochen, dafür berichteten gescheiterte CDU-Politiker und Vietnamveteranen von den Wallenstein-Momenten in ihrem Leben. Und die Inszenierung des "Kapitals" von Marx führte vor einem riesigen Bücherregal vor Augen, welche richtungsweisende Rolle das Kapital als Geldbetrag und als ideologische Bibel spielen kann.

    Der große Charme dieses dokumentarischen Theaters basiert nicht unbedingt darauf, dass Haug, Kaegi & Wetzel ihre Gegenstände auch semantisch von verschiedenen Seiten beleuchten. Er besteht auch nicht in den erhellenden Sach-Informationen, die meist geschickt zusammen montiert werden. Entscheidend und äußerst unterhaltsam sind vor allem die sorgsam gecasteten Menschen. Meist beschränkt sich ihr Expertentum nicht auf ihren Beruf, sondern hat mit ihrer Lebenserfahrung zu tun, mit Brüchen der eigenen Biografie. Rimini-Protokoll vermittelt: Jeder Mensch könnte hier auf der Bühne stehen. Aber dass jetzt ein ganz bestimmter da steht, hängt mit seinem individuell geführten Leben zusammen, ganz gleich, ob es verbockt oder gelungen war. In dieser Wertschätzung des Einzelnen liegt ein dezentes, humanistisches Pathos, das man garantiert ohne Hohlheitsverdacht genießen kann.

    Stilpluralismus

    Nach den markigen Anschauungsberichten von der Ekeltheaterfront ist der folgende Hinweis natürlich fast langweilig: das Theater der Regisseure ist trotz aller Moden nicht trivial geworden. Im Gegenteil, es hat sich in den letzten zwanzig Jahren ausdifferenziert, ist stilpluralistisch und unübersichtlich geworden. Das verschachtelte Feuilleton-Theater von Nicolas Stemann steht neben dem werktreuen "Wallenstein"-Exzess von Altmeister Peter Stein, die gründlich gelesene und psychologisch genau aktualisierte "Maria Stuart" von Stephan Kimmig neben den installativen Performances von Christoph Schlingensief, das dokumentarische Theater des Regiekollektivs Rimini Protokoll neben den geschickt designten Videobildern von Matthias Hartmann. Wer dazwischen jetzt noch die großen Kämpfe aufmachen will, hat Spiegelgefechte wohl wirklich nötig.

    Das junge, frische, ungebrochene Pathos lässt sich übrigens wieder besichtigen. Tilmann Köhler gilt als Hoffnungsträger einer neuen Regie-Generation, in der sich für Ernsthaftigkeit niemand mehr zu schämen braucht. In seiner Weimarer Inszenierung von Ferdinand Bruckners "Krankheit der Jugend", die zum Theatertreffen eingeladen war, quälten sich sehnsüchtige junge Frauen ausführlich mit der Frage, ob sie nun auf den Strich gehen sollen oder nicht. Auch in Thomas Freyers preisgekröntem Theaterstück "Separatisten", das Köhler am Berliner Gorki-Theater uraufgeführt hat, steht kein Schauspieler im Regen. Alle haben was Ordentliches zum Anziehen. Kein Videoclip, kein Pop-Song.

    Dafür aber eine Utopie: Die "Separatisten" planen den Umsturz im Kleinen. Sie wollen ihre Platte vor dem Rückbau retten, darin und drumherum eine autarke, waffenbewehrte Kommune errichten, die dem Fortschritt samt Marktwirtschaft tapfer widersteht. Die Edeka-Verkäuferin soll darin ebenso Platz und Geborgenheit finden wie der frustrierte Jungjournalist. Auf leerer Bühne wahrt das Ensemble meist physischen Abstand, spielt aber mit viel Einfühlung. In seiner affirmativen Naivität ist der Abend kaum auszuhalten, und man wünscht sich nichts dringender, als einen Zentimeter Abstand zum Text und einen Funken Humor. Immerhin weiß man danach wieder, wo man hingehört: dann nämlich doch lieber zu Stemann auf die Drehbühne.