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Terror als Machtprinzip

Der Osteuropa-Historiker Jörg Baberowskis vermittelt in seinem Buch über Stalins Gewaltherrschaft neue Einblicke in die Anatomie des Stalinismus. Er stellt die These auf, dass Stalins Herrschaft ein permanentes politisches Chaos gewesen ist.

Von Niels Beintker | 13.02.2012
    Gustaw Herling hatte Glück. Man könnte auch vorsichtig formulieren: großes Glück, wenn auch im Unglück. Der polnische Offizier war anderthalb Jahre in einem stalinistischen Gefangenenlager inhaftiert und kam nach einem Hungerstreik frei.

    Als er nach der Entlassung im Herbst 1941 durch die Straßen von Swerdlowsk ging, wurde er Zeuge einer beklemmenden Szene: Zwei sowjetische Soldaten saßen auf dem Gehweg und schlugen mit Hämmern das Eis auf. Über ihnen ein mit vielen Orden dekorierter General. Er traktierte die beiden fortwährend mit Stiefeltritten.

    Aus Sicht des Historikers Jörg Baberowski ist diese kleine Episode beispielhaft für den Umgang der Bolschewiki mit ihren Untergebenen.

    "Es ist deshalb ein prägnantes Bild, weil natürlich in der offiziellen Verlautbarung, in der Ideologie dieses Staates, der Bolschewismus eine Diktatur des Proletariates war, also eine Diktatur der Unterschichten über die alten Ausbeuter. Genau besehen war aber diese Diktatur das Gegenteil von dem, als was sie sich selbst bezeichnete, nämlich eine Erziehungsdiktatur, die versuchte, aus dem 'Russland der Ikonen und Kakerlaken', wie Trotzki das einmal genannt hatte, einen modernen Staat zu machen."

    In dieser Erziehungsdiktatur, so zeigt Jörg Baberowski in seiner großen Geschichte des sowjetischen Stalinismus, wurde nicht die bolschewistische Ideologie zum neuen Grundgesetz. Vielmehr war es die Gewalt, der grenzenlose Terror gegen Menschen aus allen sozialen Klassen und ethnischen Gruppen.

    Am Beispiel vieler neu erschlossener Quellen aus russischen Archiven stellt Baberowski die These auf, dass Stalins Herrschaft ein permanentes politisches Chaos gewesen ist, ein dauerhafter Ausnahmezustand. Der Stalinismus, so schreibt der Osteuropa-Historiker, war eine Despotie, die den Aufgaben, die sie sich selbst gestellt hatte, nicht gewachsen war. Deshalb - also aus einer Position der Schwäche - habe sie auf maßlose und willkürliche Gewalt zurückgegriffen, einen Krieg gegen das eigene Volk entfacht, bei dem alle Grenzen überschritten wurden.

    "Die Ideologie ist natürlich nicht unwichtig. Natürlich wollten die Bolschewiki aus dem rückständigen agrarischen Vielvölkerreich einen modernen Industriestaat machen. Und sie wollten natürlich auch eine eindeutige Ordnung herstellen. Aber: Diese Vorstellungen verloren ja an Bedeutung in dem Augenblick, wo dieses Programm umgesetzt wurde mit exzessiver Gewalt. Weil, Gewalt immer dann, wenn sie außer Kontrolle gerät, eigenen Gesetzen gehorcht. Und das kann man sehr gut am Stalinismus zeigen: Dass eine einmal in Gang gekommene Gewaltlawine Anschlusszwänge erzeugt, die man nicht einfach wieder stoppen kann."

    Nun begann die Gewalt nicht erst mit der Machtübernahme Stalins in den Jahren nach Lenins Tod. Es gibt eine Vorgeschichte, Jörg Baberowski nennt sie die Inkubationszeit des Stalinismus, die Einübung in die Massengewalt. Bereits während des Ersten Weltkriegs, den beiden Revolutionen von 1917 und dem anschließenden Bürgerkrieg erlebte die Bevölkerung des russischen Vielvölkerreiches zahlreiche Gewaltexzesse, etwa in Sewastopol, wo die Bolschewiki im Frühsommer des Jahres 1920 50.000 Menschen ermordeten.

    Unter Stalin aber wurde der Terror nach Baberowskis Urteil grenzenlos und zum alles bestimmenden Herrschaftsprinzip: erst bei der Ausrottung der Kulaken, dann bei der Ausschaltung von allen vermeintlichen Gegnern in der Partei und im Staat, schließlich während des Zweiten Weltkriegs.

    "Stalin ist zwar der Urheber der Gewalt. Aber er ist zugleich eine Figur, die ermöglicht wurde durch diesen Kontext. Unter anderen Umständen wäre Stalin wahrscheinlich ein ordinärer Straßenräuber geblieben und wäre am Ende im Gefängnis gelandet. So aber hatte er die Möglichkeit, in diesem Kreis von jungen, gewaltbereiten Männern aufzusteigen und der Führer dieser Gruppe zu werden. Und man kann sehr gut sehen, dass Ende der 20er-Jahre, Anfang der 30er-Jahre Stalin ganz systematisch den Gewaltraum, den er öffnete mit seinen Gefährten, dass er diesen Gewaltraum für seine persönlichen Machtzwecke benutzte und dass ihm daran gelegen war, die Gewalt auf eine Weise eskalieren zu lassen, dass er davon profitieren konnte."

    Es gibt viele bekannte Episoden über den Umgang Stalins mit seinen innerparteilichen Konkurrenten, man denke etwa an die schrittweise öffentliche Demontage und Verurteilung von Nikolai Bucharin während des Großen Terrors. Jörg Baberowski erzählt auch davon, aus dem unmittelbaren Zentrum der Despotie.

    Vor allem aber ist seine Geschichte des Stalinismus eine systematische Analyse der Gewaltherrschaft in der ganzen Sowjetunion. Baberowski zeigt, wie Stalins Statthalter und Satrapen selbst in den entlegenen Teilen des Vielvölkerreiches die Gewaltdirektiven ihres großen Führers im vorauseilenden Gehorsam in die Tat umsetzten, wie das Klima von ständiger Angst und Unsicherheit auch fernab von Moskau erzeugt wurde.

    Es ist keine neue Erkenntnis, dass Gewalt zum zentralen Element der Herrschaft Stalins wurde. In Jörg Baberowskis umfangreicher Analyse wird nun aber deutlich gezeigt, wo die Ursprünge dieser Gewalt liegen und wie es dazu kommen konnte, dass sie derart hemmungs- und grenzenlos entfacht wurde.

    "Was man daraus lernen kann ist, es nicht zu Situationen kommen zu lassen, in denen wenige entschlossene Gewalttäter den vielen anderen ihren Stil und ihre Gewalt aufzwingen können."

    Die Massengewalt im Stalinismus war, so Jörg Baberowski, kein Betriebsunfall auf dem Weg zu einer angeblich besseren Welt. Sie war der eigentliche und strukturelle Kern von Stalins Diktatur. Zugleich war diese Gewaltherrschaft aus Baberowskis Sicht singulär. Sie wurde demnach nicht durch den Nationalsozialismus beeinflusst oder mehr noch radikalisiert, wie der amerikanische Historiker Timothy Snyder in seinem viel beachteten Buch "Bloodlands" argumentiert, in Anlehnung an eine Grundfrage des Historikerstreits von 1986: die Vergleichbarkeit der beiden großen Diktaturen.

    Jörg Baberowskis detaillierte Studie über die Gewalt unter Stalin ist ein grundlegendes Werk. Es bietet, in seiner Fokussierung, einen wichtigen neuen Impuls für die Auseinandersetzung mit dieser schrecklichen Epoche im 20. Jahrhundert. Und es zeigt zugleich, dass noch immer ein großer Bedarf an historischer Aufklärung über diese Zeit des Terrors herrscht. Nicht nur, weil der Massenmörder Stalin von vielen Menschen in Russland nach wie vor als große historische Persönlichkeit verehrt wird.

    Jörg Baberowski: "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt".
    Verlag C.H. Beck, 606 Seiten, 29,95 Euro. ISBN: 978-3-406-63254-9