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"Terror" am Deutschen Theater Berlin
Wenn Menschenleben aufgerechnet werden

In Ferdinand von Schirachs "Terror" muss ein Kampfjet-Pilot entscheiden, ob er ein entführtes Flugzeugs mit 164 Menschen abschießt oder dessen Absturz über einem Fußballstadion mit 70.000 Leuten riskiert. Er entscheidet sich für den Abschuss. Ist er schuldig? Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière stellte sich nach der Aufführung diese Frage.

Von Christiane Habermalz | 27.04.2016
    Der Schauspieler Timo Weisschnur steht bei einer Fotoprobe zum Stück "Terror" von Ferdinand von Schirach im Deutschen Theater in Berlin auf der Bühne.
    Bei dem Theaterstück "Terror" entscheidet das Gericht über die Schuld eines Piloten bei einem Flugzeugabschuss (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    "Die einzige Frage in diesem Verfahren, die Sie heute und hier gestellt bekommen, lautet: Durfte Lars Koch diese 164 Menschen töten? Gibt es Situationen in unserem Leben, in denen es richtig, klug und vernünftig ist, Menschen zu töten? Mehr noch, in denen alles andere absurd, und sogar unmenschlich wäre?"
    Doch die Staatsanwältin hinterfragt im Kreuzverhör die Entscheidung des Piloten. Was macht ein Menschenleben wertvoller als ein anderes? Die Zahl? Wäre es dann auch moralisch gerechtfertigt, einen Menschen zu töten, damit vier andere, die todkrank sind, dessen Organe eingepflanzt werden können?
    "Nein, natürlich nicht.
    "Warum nicht?"
    "Es kann nur bei ganz großen Zahlen eine Ausnahme gemacht werden."
    "Also Eins zu vier reicht Ihnen da nicht?"
    "Nein, sicher nicht."
    "Wo genau ziehen Sie die Grenze, Herr Koch?"
    "Das kann ich so gar nicht sagen, das muss man von Fall zu Fall entscheiden."
    "Sie meinen, dass Sie es von Fall zu Fall entscheiden?"
    "Ich?"
    "Ja. Ist es nicht so, dass Sie mit Ihrer Entscheidung eine pathetisch gesagt gottgleiche Stellung einnehmen? Sie dürfen allein entscheiden, ab welchem Verhältnis jemand weiterleben darf, wer stirbt und wer lebt, Herr Koch?"
    Nachgespräch mit Thomas de Maizière
    Der Fall wirft komplexe Fragen auf – nach Schuld und Verantwortung, nach dem Unterschied von Recht und Moral. Und das Deutsche Theater stellte sie gestern Abend nicht nur dem Publikum, sondern im Anschluss im Nachgespräch auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière, bis 2013 Verteidigungsminister. Dabei wird deutlich: Fiktion und Realität liegen erschreckend nah beieinander. Zu Beginn seiner Amtszeit sei er als erstes darüber belehrt worden, was in einem solchen Extremfall, genannt "Renegat", zu tun sei.
    "Da gibt es eine Taschen-Notfallkarte, mit Telefonnummern, ich muss dann ständig erreichbar sein, wenn ich nicht da bin… und diese Belehrungen endeten dann immer mit dem Satz: Und dann müssen Sie entscheiden. Der Minister, nicht der Pilot."
    Er sei dankbar, sagte de Maizière, dass er eine solche Entscheidung nicht habe treffen müssen. Und man könne auch vorher schlecht antizipieren, was man selber tun würde.
    "Wir haben ja gerade Helmut Schmidt beerdigt, und Helmut Schmidt hat, vor der Entscheidung in Mogadischu, der Entscheidung, das Flugzeug zu stürmen, mit der Hand eine Rücktrittserklärung geschrieben: Wenn der Einsatz schief geht und viele Geiseln zu Tode kommen, trete ich zurück. Das hat er in die Schublade des Schreibtisches getan. Also es gibt Situationen, da muss man eine solche Entscheidung treffen und zurücktreten."
    Minister sind auch nur Menschen
    Politik und Rechtsprechung haben sich mit dem Thema schwergetan. 2005 hat der Deutsche Bundestag im "Luftsicherheitsgesetz" den Verteidigungsminister für den schlimmsten Fall ermächtigt, darüber zu entscheiden, ob Waffengewalt angewendet wird, im Zweifel auch gegen ein Flugzeug voller Unschuldiger. Doch ein Jahr später hob das Bundesverfassungsgericht das Gesetz wieder auf. Es verstoße gegen den Grundsatz der Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Leben dürfe niemals gegen anderes Leben aufgewogen werden, so das Argument der obersten Verfassungsrichter.
    Werde damit nicht aber den Terroristen alle Macht in die Hand gegeben, sich nur hinter möglichst vielen Unschuldigen zu verschanzen, hieße das nicht, der Rechtsstaat gibt auf?, fragt jemand aus dem Publikum. Er habe lange Zweifel gehabt, doch letztlich sei er zu der Auffassung gekommen, dass das Bundesverfassungsgericht richtig entschieden habe, sagte de Maizière. Der Staat müsse auch in extremen Ausnahmesituationen das Grundgesetz garantieren und das Strafrecht anwenden. Nach der Vorstellung im Deutschen Theater hat er dennoch, wie auch die Mehrheit des Publikums, den Piloten Lars Koch für "unschuldig" befunden: Freispruch. Minister sind eben auch nur Menschen.