Donnerstag, 28. März 2024

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Terror in Frankreich
"Die ganze Zivilgesellschaft muss jetzt antworten"

Mit dem Anschlag von Nizza sei unserer gesamten zivilen Gesellschaft der Krieg erklärt worden, sagte die französische Schriftstellerin Gila Lustiger im DLF. Und darauf müsse die ganze Zivilgesellschaft jetzt auch reagieren. Kriegsrhetorik sei nicht die passende Antwort. Es müsse auch gefragt werden, welche Länder den Terror legitimieren.

Gila Lustiger im Gespräch mit Kathrin Hondl | 15.07.2016
    Gila Lustiger
    Gila Lustiger (picture alliance/dpa - Karlheinz Schindler)
    Kathrin Hondl: "Erschütterung" - so heißt das Buch, in dem die Pariser Schriftstellerin Gila Lustiger über ihre Erfahrungen und Beobachtungen berichtete, nach den Terroranschlägen vom November 2015 in Paris. Und nun also erleben wir schon wieder eine Erschütterung, oder? Das habe ich Gila Lustiger kurz vor der Sendung gefragt. Wie ist es Ihnen jetzt gegangen, als Sie von dem schrecklichen Attentat gestern Abend in Nizza gehört haben?
    Gila Lustiger: Ja, natürlich bin ich erschüttert. Es sind wieder die sogenannten weichen Ziele. Viele, viele, viele, viele Familien waren unterwegs gestern Abend, um sich das anzusehen. Es war der französische Nationalfeiertag und er wusste ganz genau, als er mit dem Lastwagen in die Menschenmenge raste, dass er viele Familien und Kinder auch töten wird.
    Hondl: Dieses furchtbare Attentat in Nizza ist ja auch zu einem Zeitpunkt passiert, wo man in Frankreich ja fast so ein bisschen gedacht hat, man könnte jetzt mal ein kleines bisschen aufatmen. Es war ja so ein gewisser Moment der Entspannung, nachdem diese Fußball-EM ohne Terror irgendwie zu Ende gegangen ist. Nur ein paar Stunden vor der Attacke hat ja Präsident Hollande das Ende des Ausnahmezustands angekündigt. Damit ist es jetzt auch vorbei; jetzt ist die Kriegsrhetorik wieder zurück. Ist denn, Frau Lustiger, diese Kriegsrhetorik der Politiker Ihrer Ansicht nach jetzt die richtige Antwort auf das Massaker in Nizza?
    "Wir müssen uns überlegen, wer indoktriniert sie, wer finanziert das"
    Lustiger: Natürlich nicht! Und das ist uns mittlerweile ja allen bewusst, der gesamten Zivilbevölkerung, dass das keine adäquate Antwort ist. Präsident Hollande hat ja jetzt gesagt, dass er 50.000 Zivilisten jetzt noch mal einberufen will. Ja wie sollen sie denn weiche Ziele schützen? - Und ich meine, die Terrorwaffe ist ja keine Sprengstoffweste oder keine Handgranate oder keine Kalaschnikow, sondern jetzt ist es ein Lastwagen. Und wie soll man so etwas verwehren? - Das heißt, eigentlich ist wird unserer gesamten zivilen Gesellschaft der Krieg erklärt und die ganze Zivilgesellschaft muss jetzt antworten. Die Strategie muss eine andere werden. Es muss eine ganz andere Strategie geben. Die Strategie des Terrorismus setzt ja auf psychologische Affekte. Sie will uns ja schockieren und einschüchtern. Und wir müssen auch dementsprechend antworten. Der Terror ist ein globales Phänomen. Das Profil der Terroristen ist immer das gleiche. Es sind soziale Verlierer hier, es sind Kleinkriminelle und Verbrecher, die sich indoktrinieren lassen. Aber wir müssen uns jetzt wirklich auch einmal überlegen, wer indoktriniert sie, wer finanziert das, welche Länder legitimieren das, welche Länder verbreiten dieses Gedankengut.
    Hondl: Ich möchte trotzdem noch mal gerne ein bisschen in Frankreich bleiben. Aus Ihrem Buch zu den Anschlägen vom November, da ist mir besonders ein Satz im Gedächtnis geblieben, nämlich: "Jetzt sind wir alle Juden." Sie zitieren da eine jüdische Freundin, und es ist ja tatsächlich schon fast paradox, dass sich Juden in Frankreich seit den Terroranschlägen vom November 2015 nicht mehr so allein fühlen. Seit Januar sind auch deutlich weniger Juden aus Frankreich ausgewandert als im Jahr davor, seit Juden nicht mehr das Hauptziel dieses dschihadistischen Terrors sind, sondern, wie Sie es eben gesagt haben, in Nizza jetzt wieder alle Menschen, egal: Franzosen, jung, alt, wie auch immer, alle, die da zum Feuerwerk auf der Promenade in Nizza waren gestern Abend.
    "Das Problem ist, dass die Gesellschaft so polarisiert wird"
    Lustiger: Alle, die feierten. Das ist es ja wieder einmal. Die haben sich wieder mal gegen eine ganz gemischte, gegen die Zivilgesellschaft gerichtet. Das waren Menschen, die ausgingen während der Sommerferien und feierten. Symbolischer geht es gar nicht mehr, ja.
    Hondl: Meinen Sie, können diese schrecklichen Attentate womöglich doch vielleicht irgendwann dazu führen, diese zerrissene und polarisierte Gesellschaft in Frankreich wieder mehr zu einen?
    Lustiger: Ich habe mir vorhin gerade noch einmal die Website von Marine Le Pen angeschaut. Das ist die rechtsradikale Partei hier und die schlägt natürlich Kapital aus dieser ganzen Geschichte. Und die Front National redet natürlich jetzt schon von der Plage - ich zitiere hier -, "Plage des islamistischen Fundamentalismus", und hat jetzt gesagt, dass man diese Plage bekämpfen muss. Ich denke, das Problem ist, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet und so polarisiert wird. Sie wollen ja nicht nur Unsicherheit und Schrecken verbreiten, sie wollen ja auch, dass wir uns gegeneinander aufhetzen lassen. Und jetzt muss eigentlich die Zivilgesellschaft von innen auf diese Attentate antworten und auch die Vororte, aus denen diese radikalisierten Kleinkriminellen kommen, da muss eigentlich viel mehr geschehen. Da muss mehr Aufklärungsarbeit gemacht werden, die Leute müssen sich gegen diese Menschen stellen, die müssen mehr mit der Polizei zusammenarbeiten. Es ist jetzt an uns, der Zivilgesellschaft, uns jetzt gegen diese Terrorwelle zu stemmen.
    Hondl: Vielen Dank! - Aus Paris war das die Schriftstellerin Gila Lustiger. "Erschütterung" heißt ihr aktuelles Buch über die französische Gesellschaft und den Terror. Erschienen ist es im Berlin Verlag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.