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Terroranschlag von Berlin
Kam das Gedenken an die Opfer zu kurz?

Kurz vor Weihnachten ermordete der islamistische Attentäter Anis Amri auf dem Berliner Breitscheidplatz zwölf Menschen. Viele Verletzte kämpfen bis heute mit den Folgen des Anschlags. Kurz danach entbrannte eine Diskussion: Gab es genug Anteilnahme seitens Politik und Bevölkerung für die Opfer? Stand der Täter zu sehr im Zentrum?

Von Sandra Stalinski | 19.04.2017
    Kerzen und Kränze am Eingang der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche am Breitscheidplatz in Berlin erinnern an den Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016.
    Kerzen am Eingang der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche am Breitscheidplatz in Berlin. (Deutschlandradio / Sandra Stalinski)
    Je suis Berlin – ich bin Berlin, steht auf einem Banner, das vor hunderten Grablichtern ausgebreitet ist. Darauf gemalt: eine erhobene Faust in den Farben der Trikolore und eine deutsche Flagge. Es ist eine von vielen Botschaften der Trauer, der Anteilnahme und auch des Durchhaltewillens, wie sie auf den Stufen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche täglich abgelegt werden. Eine Art inoffizieller Gedenkort hat sich hier gebildet, an dem auch vier Monate nach dem Attentat permanent Menschen stehenbleiben, die Bilder und Plakate betrachten, vereinzelt Blumen niederlegen oder Kerzen anzünden. An Anteilnahme der Bevölkerung hat es von Anfang an nicht gefehlt, meint Martin Germer, der Pfarrer der Gedächtniskirche.
    "Es waren ja in den ersten Wochen noch eine ganze Reihe von Orten, innerhalb des Weihnachtsmarktes und im Bereich drumherum, wo Inseln von Kerzen und Blumen entstanden waren. Überall kamen dauernd Menschen, legten etwas dazu, blieben stehen, hielten inne. Also ich habe hier rund um den Breitscheidplatz eine sehr breite und große Anteilnahme und Trauer auch wahrgenommen."
    Opfer kritisieren zu späte staatliche Reaktionen
    Doch große Trauerkundgebungen wie nach dem Anschlag auf die Pariser Satirezeitung Charlie Hebdo blieben aus. Stattdessen schien es, als seien die Berliner schnell zur Tagesordnung übergegangen. In der öffentlichen Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob die, die einst unsägliches Leid über andere Völker gebracht haben, heute nicht in der Lage seien, um sich selbst zu trauern. Einzelne Angehörige von Opfern beklagten bald mangelnde staatliche Anteilnahme. Martin Germer kann diese Kritik nur teilweise nachvollziehen:
    "Ich erinnere dann immer daran, dass am ersten Tag danach in dem abendlichen Gottesdienst das gesamte Bundeskabinett, die Bundeskanzlerin, der Bundespräsident, der Bundestagspräsident, also die ganze Staatsspitze versammelt war, der Regierende Bürgermeister gesprochen hat, dass im Fernsehen Menschen aus ganz Deutschland daran teilgenommen haben, das ist ja eine Menge. Und dann war wenige Tage danach Weihnachten - und im Feiern des Weihnachtsfestes, in Gottesdiensten, was auch immer öffentlich gesagt wurde in Weihnachts- und Neujahrsansprachen, wurde das mit einbezogen. Von daher kann ich überhaupt nicht finden, dass das öffentlich nicht präsent gewesen wäre."
    Martin Germer, Pfarrer der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin.
    Martin Germer, Pfarrer der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin. (Deutschlandradio / Sandra Stalinski)
    Andreas Schwartz war am Abend des 19. Dezember auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, als der LKW in die Menge raste. Dabei wurde er an Wirbelsäule und Hüfte verletzt. Er ist einer von vielen, die nach wie vor mit den Verletzungen und dem Trauma dieses Anschlags kämpfen.
    Seiner Meinung nach kam die Reaktion der Politik zu spät. Eine Gedenkminute im Berliner Abgeordnetenhaus fand erst dreieinhalb Wochen nach dem Attentat statt. Der Bundestag gedachte der Opfer eine weitere Woche später, erst nachdem ein solches Gedenken bereits von vielen Seiten gefordert worden war. Andreas Schwartz sagte in den 'Tagesthemen'.
    "Nicht erstmal einen Monat warten und dann auf öffentlichen Druck das zu machen. Das ist ein Armutszeugnis für die Bundesregierung. Also einfach nur enttäuschend – und allgemein, wie sie mit uns umgehen, das ist traurig.
    Opferbeauftragter gegen bürokratische Hürden
    Der Umgang mit den Opfern unmittelbar nach dem Attentat sei gerade von Behördenseite dilettantisch gewesen. Angehörige der Toten bekamen zum Teil mehrere Tage weder eine Auskunft, ob ein geliebter Mensch unter den Toten sei, noch an wen sie sich wenden konnten. Auch mit Fragen der Behandlung von Verletzten und der Kostenübernahme durch Versicherungen mussten sie sich allein herumschlagen.
    Damit sich so etwas nicht wiederholt, hat die Bundesregierung im März den früheren rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck zum Opferbeauftragten des Bundes gemacht. Seine Aufgabe sieht er darin:
    "Aus dem Blickwinkel und den Erfahrungen der Betroffenen aufzuzeigen, wo Reibungen entstanden sind. Wo ungeschickte Vorgehensweisen entstanden sind. Bei der Identifikation der Verstorbenen. Beispielsweise nach den Obduktionen, wo Rechnungen mit Mahnungen verbunden verschickt worden sind. Aber es geht auch darum zu überlegen, gibt es eine Chance unmittelbar nach einem solchen Unglück, eine Anlaufstelle für Besorgte, Betroffene oder Angehörige zu errichten. Das alles wird man aufzeigen und dann einspeisen in die Politik, auf Bundesebene und auf Länderebene."
    Denkmal oder Stele oder eine Gedenktafel?
    Kurt Beck kümmert sich inzwischen um 130 Betroffene. Er führt nun auf Bundesebene weiter, was der Berliner Opferbeauftragte Roland Weber auf Landesebene bereits begonnen hat. Auf der praktischen Ebene konnte er bereits einiges erreichen. Im Fall von Andreas Schwartz, der sich seit dem Anschlag einen Papierkrieg mit Ämtern und Versicherungen lieferte, konnte er in zumindest einem Fall vermitteln. In Einzelgesprächen mit den Betroffenen, versucht er nun herauszufinden, wo er helfen kann. Kümmert sich beispielsweise um Opferentschädigungen oder Waisenrenten.
    Kurt Beck, ehemaliger rheinland-pfälzischer Ministerpräsident. Er soll zwischen Opfern und Behörden vermitteln.
    Kurt Beck, ehemaliger rheinland-pfälzischer Ministerpräsident. Er soll zwischen Opfern und Behörden vermitteln. (Klaus-Dietmar Gabbert, dpa picture-alliance)
    Und auch darüber, wie ein dauerhaftes, würdiges Gedenken an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche seinen Platz finden kann, tauscht er sich mit Angehörigen und Betroffenen aus. Denn einig sind sich alle darin, dass es einen solchen Ort braucht. Nur, wie er aussehen kann, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ob es ein Denkmal sein sollte, eine Stele etwa oder eine Gedenktafel?
    "Mich erreichen Anregungen, die sagen, Amri kennt jeder, aber die Opfer sind anonym. Eine wichtige Überlegung. Andere sagen mir, stellt aber die Opfer nicht aus, indem ihr ihre Namen veröffentlicht. Das alles muss man reflektieren und sich dann eine abschließende Meinung bilden. Und es wird sicher eines künstlerischen Beitrages bedürfen, um dann die Gestaltung einer solchen Idee vorzunehmen."
    In drei Wochen, am 13. Mai, wird es einen stillen, nicht-öffentlichen Gottesdienst mit Betroffenen und Politikern geben. Im Anschluss daran sollen mit allen gemeinsam diese Fragen bei einem Gespräch im Berliner Rathaus erörtert werden.