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Terrorismus heute und damals
Lehren aus dem Deutschen Herbst

Vor 40 Jahren begannen mit der Entführung Hanns Martin Schleyers durch die RAF jene 44 Tage, die als Deutscher Herbst bekannt wurden. Sie prägten den Gedanken vom "wehrhaften Staat". Auch heute reagiert der Staat mit neuen Gesetzen auf terroristische Bedrohungen. Genauso wie damals?

Von Otto Langels | 04.09.2017
    Zwei Männer lesen am 2. Juni 1978 Handzettel der Polizei, mit denen nach RAF-Terroristen gefahndet wird.
    Die Gesellschaft wurde von dieser Art des Widerstands gegen den Staat überrascht, sagt FDP-Politiker Gerhart Baum über den sogenannten Deutschen Herst. (picture-alliance/ dpa - Konrad Giehr)
    "Die Nachricht von dem Mordanschlag auf Hanns Martin Schleyer und die ihn begleitenden Beamten und Mitarbeiter hat mich tief getroffen. Vier Tote, Bürger unseres Staates, verlängern seit heute Abend die Reihe der Opfer von blindwütigem Terroristen, die noch nicht am Ende ihrer kriminellen Energie sind."
    Bundeskanzler Helmut Schmidt wandte sich am Abend des 5. September 1977 in einer Fernsehansprache an die Öffentlichkeit. Wenige Stunden zuvor hatte ein Kommando der RAF, der linksterroristischen Rote Armee Fraktion, den Arbeitgeberpräsidenten in Köln auf offener Straße aus seinem Dienstwagen entführt. Seine vier Begleiter, der Fahrer Heinz Marcisz und die Polizisten Reinhold Brändle, Helmut Ulmer und Roland Pieler, wurden erschossen.
    Die Entführung Schleyers und die dramatischen Ereignisse der folgenden Wochen gingen als "Deutscher Herbst" in die Geschichte ein.
    Gerhart Baum (FDP): "Wir waren darauf nicht vorbereitet"
    "Das Bundeskriminalamt teilt den Entführern von Hanns Martin Schleyer mit: Das BKA hat die Nachricht der Entführer erst vor wenigen Augenblicken erhalten. Eine weitere Erklärung folgt."
    Das sogenannte "Kommando Siegfried Hausner" der Roten Armee Fraktion hatte Schleyer entführt, um ihn gegen elf inhaftierte RAF-Mitglieder auszutauschen, darunter die in Stuttgart-Stammheim einsitzenden Anführer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe.
    Die Rote Armee Fraktion verstand sich als revolutionäre Avantgarde. Aus dem Untergrund nahm die Gruppe 1970 den bewaffneten Kampf auf. Als Stadtguerilla wollte die RAF insbesondere den – wie sie sagte – US-amerikanischen Imperialismus in den westeuropäischen Metropolen angreifen und damit die Befreiungsbewegungen u.a. in Vietnam und Lateinamerika unterstützen.
    Zunächst verübte die Baader-Meinhof-Gruppe – wie sie nach ihren Anführern auch genannt wurde – Banküberfälle sowie Bombenanschläge auf amerikanische Militäreinrichtungen und deutsche Sicherheitsbehörden mit mehreren Toten und Dutzenden Verletzten.
    Der FDP-Politiker Gerhart Baum, damals Staatssekretär im Bundesinnenministerium:
    "Die Gesellschaft wurde von dieser Art des Widerstands gegen den Staat und dieser Art neuer Kriminalität, politisch motivierter Kriminalität, überrascht, wir waren darauf nicht vorbereitet. Es war damals eine Phase der Verunsicherung. Es ist beinahe eine Stimmung der Hysterie in diesem Lande entstanden, und der Überreaktion. Es wurde von Krieg gesprochen, das war natürlich absurd. 30 Mörder und Kriminelle, allerdings mit einem starken politischen Hintergrund und einem Sympathiefeld, hätten die Demokratie nie in Gefahr bringen können und haben sie auch nicht in Gefahr gebracht."
    Blutiges Jahr mit schwerer Ermittlungspanne
    Nach der Festnahme der Führungsriege 1972 setzten nachrückende Mitglieder den brutalen Kampf gegen das verhasste politische System fort. Im Mai 1976 erhängte sich Ulrike Meinhof in ihrer Gefängniszelle in Stuttgart-Stammheim. Ihr Tod löste Proteste und Spekulationen aus, sie habe sich nicht umgebracht, sondern sei ermordet worden.
    Knapp ein Jahr später, am 7. April 1977, erschoss ein RAF-Kommando kaltblütig Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine beiden Begleiter, am 30. Juli töteten Terroristen den Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank, Jürgen Ponto.
    Dann folgte die Entführung Hanns-Martin Schleyers am 5. September. Bei der anschließenden Großfahndung unterlief der Sonderkommission eine verhängnisvolle Panne: Ein Polizist gab einen konkreten Hinweis auf Schleyers Versteck in der Nähe von Köln, doch dem wurde nicht nachgegangen.
    Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer wurde am 05.09.1977 in Köln von RAF-Mitgliedern entführt, drei Polizisten und der Fahrer starben bei der Geiselnahme. Schleyer wurde am 19.10.1977 im Kofferraum eines Autos in der elsäßischen Stadt Mühlhausen ermordet aufgefunden.
    Die Bundesregierung wollte nicht mit der RAF über Hanns Martin Schleyer verhandeln. Der Preis, wie beim Fall Peter Lorenz im Austausch Terroristen freizulassen, war ihr zu hoch. (dpa)
    "Schleyer hätte ja gerettet werden können. Das ist eine bittere Wahrheit, die dazu gehört, wenn man sich an diese schrecklichen Tage im Herbst 1977 erinnert", sagt Baum.
    Im Gegensatz zur Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz, den Terroristen im Februar 1975 verschleppt und im Austausch gegen fünf inhaftierte Gesinnungsgenossen freigelassen hatten, war die Bundesregierung im Fall Schleyer nicht gewillt, auf die Forderungen der RAF einzugehen. Da einige der gegen Lorenz freigepressten Terroristen sich später erneut an blutigen Anschlägen beteiligten, wollte die Regierung nicht noch einmal den Forderungen von Gewalttätern nachgeben.
    Politik geht bis an die Grenzen des Rechtsstaats
    Um mögliche Verbindungen zwischen den Schleyer-Entführern und den inhaftierten RAF-Mitgliedern zu unterbinden, verabschiedete der Bundestag am 29. September das Kontaktsperregesetz. Danach durften Rechtsanwälte ihre Mandanten in den Gefängnissen nicht mehr besuchen. Da das Gesetz massiv in die Rechte von Beschuldigten eingreift, sollte es regelmäßig auf seine Notwendigkeit überprüft werden. Der grüne Bundestagsabgeordnete Hans Christian Ströbele, in den 1970er Jahren Anwalt von Andreas Baader:
    "Der jetzige Justizminister hat beispielsweise zum Kontaktsperregesetz gesagt, das müsse nun endlich mal überprüft und aufgehoben werden. Dabei rausgekommen ist aber, dass das Gesetz und die gesetzliche Regelung nach wie vor existiert und besteht."
    Nach der Schleyer-Entführung befand sich die Bundesrepublik in einer Art Ausnahmezustand. Bundeskanzler Helmut Schmidt sprach von der "unabweisbaren Notwendigkeit", bis an die Grenzen dessen zu gehen, was im Rechtsstaat erlaubt sei. Der spätere Bundesinnenminister Gerhart Baum bezeichnet das Vorgehen rückblickend als überzogen:
    "Der Staat hat angefangen, eine Sicherheitsaufrüstung vorzunehmen, und die ging über das Ziel hinaus. Es war Übereifer zum Teil, es wurden neue Gesetze gemacht, neue Fahndungsmaßnahmen eingerichtet."
    Selbst Otto Schily, einer von Baums Nachfolgern, ein unnachgiebiger Verteidiger des wehrhaftes Rechtsstaates, 1977 Anwalt von Gudrun Ensslin, spricht von problematischen Reaktionen auf den Terrorismus:
    "Es gab ja eine gewisse Hysterisierung, und es gab Maßnahmen, die überzogen waren und wo Menschen dann auch in das Visier des Staates kamen, was dann eben auch eher das Gegenteil davon bewirkt hat, was man bewirken wollte."
    Fünf Wochen später wird die "Landshut" entführt
    "Wir alle sind uns des großen Ernstes der neuen Situation bewusst, sehr bewusst." – Regierungssprecher Klaus Bölling am 14. Oktober 1977, am Tag nach der Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut".
    "Das Ziel bleibt unverändert, Leben zu retten, die Leben der Passagiere, das Leben der Lufthansa-Besatzung, das Leben von Hanns Martin Schleyer."
    Ein palästinensisches Kommando hatte die "Landshut" mit 86 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern an Bord auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt entführt. Die vier Terroristen gehörten der PFLP an, einer militanten palästinensischen Befreiungsorganisation, zu der die RAF enge Beziehungen unterhielt.
    Die am 13. Oktober 1977 auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt/Main von vier Terroristen entführte Lufthansa Maschine "Landshut" auf dem Flughafen von Mogadischu. Fünf Besatzungsmitglieder und 82 Passagiere befinden sich in der Gewalt der Terroristen. Mit der Aktion sollen elf Angehörige der Rote Armee Fraktion (RAF) aus deutscher Haft sowie zwei in der Türkei festgehaltene Palästinenser freigepresst werden. | Verwendung weltweit
    Fünf Tage dauerte die Odyssee der entführten "Landshut" im Oktober 1977. Als Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin von ihrer Befreiung hörten, nahmen sie sich das Leben. (A0009_dpa)
    Zeitgleich wandte sich Hanns Martin Schleyer in einem von der RAF aufgenommenen Video mit einem verzweifelten Appell an die Öffentlichkeit: Nach fünf Wochen Geiselnahme solle die Bundesregierung endlich eine Entscheidung fällen:
    "Dies muss umso mehr erfolgen, als meine Entführer sich nach meiner festen Überzeugung so nicht mehr lange hinhalten lassen. Ihre Entschlossenheit kann nach der Ermordung von Buback und von Ponto nicht in Zweifel gezogen werden."
    Die entführte "Landshut" landete nach einer fünftägigen Odyssee schließlich in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Bei einem Zwischenstopp in Aden erschoss der PFLP-Anführer den Lufthansa-Kapitän Jürgen Schumann.
    Am 18. Oktober sind es ein Dutzend Tote
    Am 18. Oktober stürmte um 0.05 Uhr eine Spezialeinheit der Bundespolizei, die GSG-9, das Flugzeug und tötete drei der vier Terroristen. Im Namen der Bundesregierung erklärte Klaus Bölling:
    "Die Geiseln von Mogadischu sind frei. Hätte die Bundesrepublik Deutschland die elf terroristischen Täter frei gelassen, so wären sie alle zurückgekommen, genau wie jene Terroristen, die Peter Lorenz entführt haben. Und – wie diese – hätten sie neue schreckliche Mordtaten begangen."
    In Stuttgart-Stammheim hatten Baader, Ensslin und Raspe in ihren Zellen das Ende des Geiseldramas von Mogadischu aus dem Radio erfahren. Was dann folgte, beschrieb ein Justizsprecher Stunden später:
    "Im Einvernehmen mit dem Generalbundesanwalt gibt das Justizministerium Baden-Württemberg folgende Pressemitteilung bekannt, dass sich die Terroristen Baader und Raspe mit je einer Pistole 7,65 mm erschossen haben. Frau Ensslin hat sich in ihrer Zelle erhängt."
    Einen Tag nach der Befreiung der "Landshut" und den Selbstmorden von Stammheim veröffentlichte das "Kommando Siegfried Hausner" eine letzte Mitteilung:
    "Wir haben nach 43 Tagen Hanns Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet. Der Kampf hat erst begonnen. Freiheit durch bewaffneten antiimperialistischen Kampf."
    "Guten Abend, meine Damen und Herren, sechs Wochen nach seiner Entführung durch Terroristen in Köln ist Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer heute Abend ermordet aufgefunden worden."
    Sechs "bleierne" Wochen, die das Land veränderten
    Der "Deutsche Herbst" ging damit am 18. Oktober 1977 zu Ende; sechs Wochen, die als "bleierne Zeit" in Erinnerung bleiben und – wie Verteidiger von Bürgerrechten später sagen werden – die Republik veränderten: Zu Gunsten der "inneren Sicherheit" wurden neue Kontroll-, Überwachungs- und Identifizierungsmethoden eingeführt und dabei kontinuierlich Persönlichkeitsrechte eingeschränkt; eine Entwicklung, die in Zeiten des islamistischen Terrors bis heute anhält.
    Die sozialliberale Bundesregierung ging jedoch nicht nur mit Polizei und Justiz gegen die RAF vor, sondern versuchte die Terroristen auch politisch zu bekämpfen. Gerhart Baum:
    "Gewalt beginnt in den Köpfen, und wir haben versucht, den Ursachen nachzuspüren und praktisch das Sympathisantenfeld auszutrocknen. Das ging nur mit Besonnenheit und auch mit Selbstkritik."
    Nach weiteren Bombenanschlägen und Morden erklärte die RAF im März 1998 in einem ausführlichen Schreiben schließlich ihre Auflösung:
    "Vor fast 28 Jahren, am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF: Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte."
    Die Erklärung endet mit der namentlichen Aufzählung von 26 Gesinnungsgenossen, die im Kampf gestorben seien, verliert jedoch nicht ein Wort über die 34 Opfer der Roten Armee Fraktion.
    Im Jahr, als sich die RAF auflöst, formiert sich der NSU
    War die Selbstauflösung ein Akt innerer Einsicht, oder kapitulierte die Gruppe vor den verschärften Sicherheitsgesetzen und effektiveren Überwachungs- und Fahndungsmaßnahmen? Paragraph 129a StGB stellt die Mitgliedschaft in einer "kriminellen Vereinigung" unter hohe Strafen und wurde 2002 auf international agierende Gruppen ausgedehnt, die Rechte der Verteidiger wurden eingeschränkt, Wohnungsdurchsuchungen und Personenkontrollen erleichtert. Der Rechtsanwalt und RAF-Experte Butz Peters:
    "Die RAF, das scheint mir ganz wichtig zu sein, ist ja nicht 'militärisch' besiegt worden, sondern sie hat gemerkt, dass sie mit ihren Zielen nicht durchdringen kann, also mit den gewalttätigen Mitteln ihre Ziele nicht erreichen kann, dass das Revolutionsmodell sich als untauglich erwiesen hat."
    Fahndungsfotos der Mitglieder der sog. Zwickauer Zelle: Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos (v.l.).
    Im Jahr, als die RAF den Kampf aufgab, formierte sich in Jena eine ganz andere Terrorzelle: der Nationalsozialistische Untergrund um Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos (v.l.). (picture alliance / dpa /Frank Doebert)
    1998, im selben Jahr also, in dem die RAF ihre Auflösung verkündete, formierte sich in Jena eine rechtsextreme, terroristische Vereinigung, die später als "Nationalsozialistischer Untergrund" bekannt wurde. Mehr als 13 Jahre lang mordete, bombte und raubte der NSU.
    "Bevor wir nun sofort den Krieg erklären, wollen wir erst mal auf andere Art uns wehren. Nun geht es nicht mit Muskelkraft, mal sehen, ob das Dynamit es schafft." – ein Ausschnitt aus dem Video, in dem sich der NSU zu einer Reihe von Mordtaten und Sprengstoffanschlägen bekannte.
    In den Jahren 2000 bis 2006 erschossen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos neun türkisch- und griechischstämmige Migranten sowie eine Polizistin. Die Dritte des Trios, Beate Zschäpe, steht deshalb in München vor Gericht.
    "Die Fokussierung auf linken Terror war falsch"
    Trotz eines hochgerüsteten Sicherheits- und Fahndungsapparates hatten die Rechtsterroristen eine beispiellose Mord- und Anschlagsserie begehen können. Mehrere Untersuchungsausschüsse konstatierten Ermittlungspannen, Vertuschungsversuche und organisatorische Defizite. Verfassungsschutz und Polizei seien auf dem rechten Auge blind gewesen, kritisiert Gerhart Baum die Sicherheitsorgane:
    "Die Fokussierung auf den linken Terror war falsch, denn wir hatten in der gleichen Zeit, das sagen die Statistiken ganz deutlich, hatten wir einen Terror von rechts."
    Heute, vier Jahrzehnte nach dem Deutschen Herbst, stehen Staat und Gesellschaft im Kampf gegen den islamistischen Terror vor ungleich größeren Herausforderungen. Die Attentate der RAF erscheinen, so zynisch es klingen mag, gemessen an der Zahl der Opfer wie ein harmloses Vorspiel zum 11. September 2001 und zu den Anschlägen von Madrid, Paris, London, Nizza, Barcelona und auch Berlin. Die RAF ist Geschichte, der sogenannte Islamische Staat die neue Bedrohung.
    "Ich bin wie Millionen von Menschen in Deutschland entsetzt, erschüttert und tieftraurig über das, was gestern Abend am Berliner Breitscheidplatz geschehen ist. Wir müssen nach jetzigem Stand von einem terroristischen Anschlag ausgehen." – Bundeskanzlerin Angela Merkel am 20. Dezember vergangenen Jahres, kurz nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche.
    Der islamistische Attentäter Anis Amri erschoss einen Lkw-Fahrer und steuerte dessen Sattelzug in die Menschenmenge. Auf dem Breitscheidplatz kamen elf Menschen ums Leben. Die Terrormiliz IS reklamierte die Tat für sich. Eine italienische Polizeistreife erschoss den Attentäter wenige Tage später bei einer Routinekontrolle.
    Weitere Ermittlungspanne, weitere Gesetze
    Wenn die deutschen Sicherheitsbehörden konsequent gegen den abgelehnten Asylbewerber vorgegangen wären, hätte der Anschlag vielleicht verhindert werden können, meinte Berlins Innensenator Andreas Geisel:
    "Um es jetzt klar zu sagen: Auf der Grundlage des Straftatbestandes 'gewerbsmäßiger, bandenmäßiger Handel mit Betäubungsmitteln' wäre eine Verhaftung von Anis Amri wohl möglich gewesen."
    Die Bundesregierung reagierte bereits kurz nach dem Berliner Anschlag mit neuen Gesetzesvorhaben. Bundesinnenminister Thomas de Maiziere:
    "Wir haben uns auf erleichterte Voraussetzungen für die Abschiebehaft geeinigt. Wir haben uns geeinigt über schärfere Überwachungsauflagen für Ausreisepflichtige, für Ausländer. Im BKA-Gesetz wird eingeführt die Möglichkeit der Einführung einer Fußfessel für sogenannte Gefährder. Wir sind gemeinsam der Auffassung, dass die Präventionsmaßnahmen gegen Extremismus und Radikalisierung insbesondere im Bereich des islamistischen Terrors ausgeweitet und erheblich verbessert werden sollen."
    Mehr Gefährder, beliebigere Opfer
    Allerdings garantieren alle diese Maßnahmen keine absolute Sicherheit.
    Im Vergleich zu den heutigen Einschränkungen von Bürgerrechten nehmen sich die Antiterrorgesetze der 1970er Jahre geradezu harmlos aus. Der Hamburger Politikwissenschaftler und Terrorismus-Experte Wolfgang Kraushaar zu den Unterschieden zwischen RAF und IS:
    "Die Differenzen, die sind ja so fundamental, so grundlegend. Es bezieht sich einmal darauf, dass es einen geradezu gigantischen Unterschied in der Anzahl der Opfer gibt, es gibt eine tendenzielle Beliebigkeit der Opfer, und das Ganze ist ja, wenn man so will, in der Figur des Selbstmordattentäters geronnen, den es in den 70er-Jahren ja noch gar nicht gegeben hat."
    Zu sehen ist der Tunesier Anis Amri, der im Dezember den Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt verübt hat.
    Anis Amri verübte am 20. Dezember 2016 einen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Hätte das mit schärferen Gesetzen verhindert werden können? (BKA)
    Auch Butz Peters betont die Unterschiede. Einer überschaubaren Gruppe von RAF-Terroriten damals stehe heute eine vielfache Zahl von potentiellen islamistischen Attentätern gegenüber:
    "Im Jahr 1977, dem deutschen Terrorjahr, gab es nicht mal zwei Dutzend RAF-Aktivisten, heute 1000 Personen, und das ist nur die erkannte Spitze des Eisberges. Und natürlich ein riesengroßer Unterschied ist die Gefährdungslage. Damals gefährdet waren Repräsentanten des Staates, Und wenn Sie sich angucken die Bedrohungslage heute: Es ist der Normalbürger."
    Lassen sich dennoch aus dem "Deutschen Herbst" des Jahres 1977 Lehren für heute ziehen? Muss der Staat im Kampf gegen den IS sicherheitspolitisch noch weiter aufrüsten – nach Vorratsdatenspeicherung, Terrorismusabwehrzentrum, Video- und Online-Überwachung, Antiterror-Datei, Gesichtserkennung – auch, um dem Gefühl der Ohnmacht zu begegnen?
    "Das Risiko, Terroropfer zu werden, ist relativ gering"
    Otto Schily spricht von einer notwendigen, Gerhart Baum von einer problematischen Entwicklung:
    Schily: "Heute haben wir, glaube ich, die gesetzlichen Verschärfungen vorgenommen, die zur Bekämpfung des Terrorismus notwendig sind, einfach zur Früherkennung von terroristischen Planungen. Auch heute gilt, dass wir alle notwendigen polizeilichen Maßnahmen gegen Terrorismus ergreifen müssen, auf der anderen Seite aber auch diese Frage geistig-politisch angehen müssen."
    Baum: "Bei der Bekämpfung des dschihadistischen Terrors zeigt sich eine Konstante, nämlich die Konstante der Überreaktion. Ein bisschen sind auch schuld die Medien, die also solche Attentate hochspielen und das Gefühl vermitteln, wir alle seien bedroht, und da entsteht eine Atmosphäre der Angst, die völlig unberechtigt ist. Das Risiko, Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden, ist relativ gering, wir müssen nur die Gefahr richtig einordnen und dürfen sie nicht benutzen, um Freiheitskräfte außer Kraft zu setzen. Es wird so getan, als könne man mit Stärke die Herausforderung bekämpfen. Aber die eigentliche Stärke liegt natürlich in der Stärke der Demokratie."