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Terrorismusforschung
Was machen Dschihadisten nach Feierabend?

Kämpfen, Kochen, Katzen kraulen – so könnte der Tag eines Kämpfers des "Islamischen Staates" aussehen. Das sagt der norwegische Dschihadismus-Forscher Thomas Hegghammer. Er fragt, warum IS-Kämpfer ihre Zeit auch damit verbringen, Gedichte aufzusagen oder öffentlich zu weinen.

Von Christian Röther | 11.07.2017
    Ein Mann schaut am 14.01.2016 in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) ein Katzenvideo auf YouTube an. Am 19. Februar 2016 veranstaltet das NRW-Forum in Düsseldorf in Kooperation mit dem Walker Art Center (Minnesota) das erste deutsche Katzenvideofestival. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa
    Auch islamistische Terroristen lieben "cat content" im Netz. (picture alliance/dpa/Rolf Vennenbernd)
    Junge Männer sitzen im Halbkreis und singen, legen sich gegenseitig die Arme um die Schultern. Sie tragen weite Hemden in Militärfarben und haben sich lange nicht rasiert. Die Männer gehören zum Terrornetzwerk al-Qaida. Das sagt der norwegische Terrorismusforscher Thomas Hegghammer. Er hat ein Video der singenden Männer auf seinem Blog veröffentlicht. Der heißt "The bored jihadi" – der gelangweilte Dschihadist. Die Gotteskrieger singen über die USA und ihre Drohnen, so Hegghammer. Sie preisen Osama bin Laden.
    Thomas Hegghammer forscht über etwas, dass er "jihadi culture" nennt – Dschihadisten-Kultur. Er hat gerade einen gleichnamigen Sammelband herausgegeben.
    "Dschihadisten-Kultur ist ein Oberbegriff für alles, was Dschihadisten tun, wenn sie nicht kämpfen. Alles, was keinen offensichtlichen Zweck hat: Poesie, Gesang, Rituale oder Vorlieben etwa bei Kleidung und Nahrung."
    Sport, Witze und Hygiene
    Sich mit dieser "Kultur" zu befassen, sei essentiell, um die Weltsicht von Dschihadisten zu verstehen. So würden sich Dschihadisten oft ihre Träume erzählen, um dann die Träume gemeinsam zu deuten. Hegghammer veröffentlicht Beispiele auf seinem Blog. Etwa diesen Traum eines al-Qaida-Kämpfers:
    "Wir waren im Traum von Ungläubigen umstellt und wussten, dass wir da nicht lebend rauskommen. Wir ließen unsere Waffen fallen. Aber Scheich Osama lächelte mich an. Sein Gesicht war wie der Mond in der Nacht. Dann träumte ich, dass er mich umarmt. Ich habe nie eine schönere Umarmung gefühlt. Ich wollte nicht, dass es aufhört."
    Der norwegische Dschihadismus-Forscher Thomas Hegghammer.
    Der norwegische Dschihadismus-Forscher Thomas Hegghammer. (Christian Vinculado Tandberg / FFI)
    Thomas Hegghammer sagt, er wolle den Dschihadisten keine "Hochkultur" andichten. Er befasst sich auch mit profanen Dingen wie Sport, Witzen und Hygiene. Die meiste Zeit allerdings würden Dschihadisten mit Militärischem verbringen, gefolgt von religiösen Aktivitäten: Sie beten, rezitieren und singen.
    Traditioneller Gesang und Popmusik
    Die Naschids, die von Dschihadisten viel gesungen werden – das ist ein traditioneller A-Capella-Gesang mit islamisch-religiösem Inhalt. Bei Dschihadisten klingen die Naschids oft, als seien sie mit westlicher Popmusik gemischt worden. Wie diese inoffizielle Hymne des Islamischen Staates. Im Text heißt es, die Gemeinschaft der Muslime solle den Sieg erwarten, denn der Islamische Staat sei auferstanden durch das Blut der Aufrichtigen.
    "Sie füllen die klassischen islamischen Genres mit martialischen Inhalten. In den Liedern geht es um Märtyrer. Menschen werden aufgerufen, zu kämpfen und sich dem Dschihad anzuschließen."
    Mit Propaganda wie dieser wirbt der Islamische Staat für sich. Musik und Internet-Videos seinen für neue Rekruten oft der erste Kontakt mit dem Dschihadismus, sagt Thomas Hegghammer. Gelegentlich wird behauptet, dass Dschihadisten selbst nicht besonders religiös seien und gegen die strengen Regeln verstoßen würden, die sie selbst aufgestellt haben. Der Terrorismusforscher aus Norwegen sieht das anders:
    "Dschihadisten nehmen die Religion sehr ernst. Viele waren früher kriminell und nicht religiös, aber sobald sie in einer dschihadistischen Gruppe sind, halten sie sich ziemlich genau an die religiösen Rituale."
    Der weinende Schlächter
    Hegghammers Forschungsansatz bricht mit dem üblichen westlichen Blick auf al-Qaida, Islamischen Staat, Boko Haram und Co. Die erscheinen zumeist als herzlose fanatische Mörder. Aber:
    "In dschihadistischen Gruppen wird viel geweint. Vielleicht, weil es als Zeichen für die Hingabe an Gott gilt. Abu Musab az-Zarqawi, der frühere al-Qaida-Chef im Irak, hatte zwei Beinamen: 'der Schlächter' und 'der, der viel weint'. Das ist ein Beispiel dafür, wie sich die Dschihadisten-Kultur von anderen Kulturen und Wertesystemen unterscheidet."
    Kämpfer des Islamischen Staates rezitieren ein Gedicht. Die Forschung habe diese "weichen" Aspekte des Dschihadismus lange ignoriert, kritisiert Hegghammer – und schließt sich dabei selbst mit ein. Terrorismusforscher würden sich zumeist damit befassen, wie dschihadistische Gruppen entstehen und sich wandeln, was sie vorhaben, welchen Ideologien sie folgen. Ebenso wichtig sei aber die Analyse von Gedichten, Liedern und Traumdeutungen:
    "Man lernt dadurch, warum Dschihadisten tun, was sie tun. Eine Erkenntnis ist: Emotionen spielen eine größere Rolle beim Rekrutieren und in der Radikalisierung, als wir bisher geglaubt haben."
    Die Dschihadisten-Kultur schaffe darüber hinaus Zusammenhalt. Außerdem könnten Kämpfer zeigen, wie ernst ihnen die Sache sei. Sie würden viel Zeit investieren, um Lieder und Gedichte auswendig zu lernen. Dabei stellt Thomas Hegghammer einen Wandel fest. In den vergangenen 30 Jahren hätten Dschihadisten sich mehr und mehr der Popkultur geöffnet.
    "Die Propaganda ist bunter geworden. In den 80er Jahren waren viele radikale Islamisten skeptisch gegenüber Bildern, Videos und Nashid-Gesang. Heute machen sie eine große Show."
    Katzenvideos gehen immer
    Eine weitere Neuerung: Dschihadisten übernehmen Elemente aus dem Sufismus, der islamischen Mystik. Dazu zählen etwa die Traumdeutungen.
    "Das ist überraschend, denn Dschihadisten sehen Mystiker eigentlich als ihre Erzfeinde an. Also müssen diese Praktiken den Dschihadisten sehr wichtig sein, denn normalerweise sind sie nicht dafür bekannt, Kompromisse zu machen."
    Auch von einem anderen "Feind", dem Westen, übernehmen Dschihadisten kulturelle Elemente, indem sie sie kopieren. Zum einen in der Musik, aber auch in ihren Videos. Die orientieren sich an Sehgewohnheiten, die durch Hollywood geprägt sind. Und auch ein Internet-Trend macht vor Dschihadisten nicht halt. Auf Hegghammers Blog sind viele Fotos davon zu sehen: Dschihadisten mit niedlichen Katzen. Katzen gehen immer – auch bei denen, die um einer Ideologie willen Menschen töten.
    "Es ist auffällig, dass Dschihadisten sehr viele Katzenfotos ins Netz stellen. In älteren Quellen konnte ich keine Katzen finden. Es scheint, dass Dschihadisten das von Facebook, Twitter und Co übernommen haben."