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Terrormiliz IS und Kurden
Der Zwei-Fronten-Krieg der Türkei

Nach dem Attentat in Istanbul, bei dem zehn deutsche Touristen starben, kündigte die Türkei an, den Islamischen Staat mit aller Härte zu bekämpfen. Zudem toben heftige Kämpfe in den Kurdengebieten des Landes und Staatspräsident Erdogan steht für das harte Vorgehen von Armee und Polizei in der Kritik. Und auch die Menschenrechtssituation im Land verschlechtert sich zusehends.

Von Gunnar Köhne | 27.01.2016
    Einsatzkräfte nach dem Anschlag auf dem Sultan-Ahmet-Platz nahe der Blauen Moschee und der Hagia Sophia.
    Einsatzkräfte nach dem Attentat auf dem Sultan-Ahmet-Platz: Der Anschlag von Istanbul war bereits der dritte dieser Art, den mutmaßliche Angehörige des so genannten IS verübt haben. (AFP / OZAN KOSE)
    Nirgendwo zeigt sich Istanbul von einer prachtvolleren Seite als am Sultanahmet-Platz. Hier thront die Hagia Sophia, die 1500 Jahre alte Basilika der Byzantiner. Und gleich gegenüber steht die Blaue Moschee - ein anderes Wahrzeichen von Istanbul. Ausgerechnet hier riss Mitte des Monats ein Selbstmordattentäter elf Menschen, davon zehn deutsche Touristen, in den Tod. Er soll von der Terrororganisation Islamischer Staat geschickt worden sein.
    Der Anschlag von Istanbul war bereits der dritte dieser Art, den mutmaßliche Angehörige des so genannten IS verübt haben. Zuletzt starben über 100 Menschen in Ankara, überwiegend Teilnehmer einer kurdischen Friedensdemonstration. Die türkische Regierung kündigte nach dem Attentat von Istanbul an, den Islamischen Staat mit aller Härte zu bekämpfen. Nach eigenen Angaben beschoss die türkische Artillerie zwei Tage nach dem Anschlag rund 500 Mal Stellungen des IS auf syrischer Seite. Eine unabhängige Bestätigung dafür gab es allerdings nicht.
    "In den Jahren 2011 bis 2014 gab es zwischen der Türkei und dem IS zahlreiche Verbindungen"
    Formal ist die Türkei schon länger Mitglied der sogenannten Anti-IS-Koalition. An Luftangriffen der Allianz hat sie sich bislang allerdings nur sporadisch beteiligt. Manche vermuten hinter dieser Zurückhaltung politische Rücksichtnahme. Die türkische Regierung habe dschihadistische Gruppen in Syrien lange gewähren lassen, sagt auch die Istanbuler Journalistin Ezgi Basaran. Jahrelang hatte sie vor den Gefahren dieser stilschweigenden Duldung des IS gewarnt:
    "In den Jahren 2011 bis 2014 gab es zwischen der Türkei und dem IS zahlreiche Verbindungen. Diese Gruppe hat die Türkei vor allem als Transportroute genutzt. Und die Regierung hat vor den Aktivitäten dieser Gruppen einfach die Augen verschlossen. Wir haben zum Beispiel herausgefunden, dass es in der Grenzstadt Kilis lange Zeit einen regelrechten Taxidienst für Dschihadisten gab, mit dem die Kämpfer unbehelligt nach Syrien ein- und ausreisen konnten. Jetzt geht die Regierung gegen den IS härter vor. Aber das kommt etwas spät. Denn nun haben wir das Problem von gefährlichen IS-Zellen, die sich in mehreren Städten des Landes, etwa in Urfa oder Gaziantep, eingenistet haben."
    Die türkische Regierung sagt, sie ließe höchstens humanitäre Güter über die Grenze nach Syrien – jeglicher Waffenhandel dagegen sei strikt unterbunden worden. Es gilt aber als sicher, dass sich die Terrormilizen des Islamischen Staates wesentlich über den Verkauf von Öl finanzieren. Im Jahr 2014 soll der IS jeden Tag Öl für geschätzt zwei Millionen Dollar außer Landes schmuggelt haben – vor allem in das Nachbarland Türkei.
    IS soll 2014 Öl im Wert von rund 700 Millionen Euro illegal in die Türkei verkauft haben
    Allerdings soll durch Luftangriffe westlicher Alliierter und auch Russlands die Ölförderung der Terroristen empfindlich getroffen worden sein. Die deutsche Bundesregierung glaubt deshalb, dass die Ölgeschäfte des IS um ein Zehntel eingebrochen sind. Dennoch: Die gesamten Ölreserven in den vom IS besetzten Gebieten werden auf 1,1 Milliarden Barrel Öl geschätzt – ein riesiges Vermögen. Dazu kommen Einnahmen aus Menschenhandel, Schutzgelderpressung und dem Verkauf von Antiquitäten.
    Allein 2014 soll der IS Öl im Wert von rund 700 Millionen Euro in die Türkei illegal verkauft haben – so die Schätzungen der oppositionellen Republikanischen Volkspartei. Auch sollen über eine Million Euro an Unterstützung aus Katar über die Türkei an den IS und andere radikalislamische Gruppen in Syrien geflossen sein. Zudem sollen noch im selben Jahr Waffen über die Türkei an den IS geliefert worden sein – das legen Dokumente oppositioneller türkischer Medien nahe.
    Ezgi Basaran, so vermutet sie, hat Anfang des Jahres ihre Anstellung als Chefredakteurin des Nachrichtenportals "Radikal" verloren, weil sie die IS-Politik Ankaras immer wieder kritisierte. Der Herausgeber sei unter Druck gesetzt worden.
    "Egal, ob es um die Kurdenfrage oder um den IS im eigenen Land geht: Jede Kritik an der Regierung wird damit beantwortet, dass man den Kritiker an den Pranger stellt, ihn entlässt oder ihn gleich wegen angeblicher Terrorunterstützung anklagt. Von Meinungs- und Pressefreiheit kann ich in diesem Land darum nicht mehr sprechen."
    Im kurdischen Südosten toben heftige Kämpfe zwischen PKK und türkischen Sicherheitskräften
    Staatspräsident Erdogan will von Vorwürfen, die Regierung gehe nachgiebig gegen den IS vor, nichts wissen. Terrorismus werde von seiner Regierung unterschiedslos mit gleicher Härte bekämpft. Doch in einer Rede am Tag nach dem blutigen Anschlag von Istanbul verwendete er eine Minute seiner Redezeit darauf, diesen zu verurteilen. Zehn Minuten lang dagegen wetterte er gegen die Kritiker seiner Kurdenpolitik.
    Auch Ministerpräsident Davutoğlu versucht, die Gefahr durch den IS für das eigene Land immer wieder kleinzureden. Bei einer Pressekonferenz nach dem Anschlag vom Sultanahmetplatz, auf der er stolz über Fahndungserfolge sprach, wurde er bei der Frage nach den Hintermännern des Attentates nebulös. Er sprach von "dunklen Mächten" in dessen Auftrag der IS-Attentäter gehandelt habe. Viele vermuten, dass damit gemeint war: Wahrscheinlich steckt doch die PKK dahinter. Für die Opposition ein Beleg dafür, dass die AKP-Regierung in militanten Kurden einen größeren Feind sieht als in IS-Terroristen.
    Tatsächlich toben im kurdischen Südosten des Landes wieder heftige Kämpfe zwischen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und türkischen Sicherheitskräften. Ziel der Offensive ist vor allem die PKK-Jugendorganisation YDG-H. Sie hat sich in den Innenstadtbezirken zahlreicher Städte wie Diyarbakir oder Cizre verschanzt.
    Menschenrechtler kritisieren Härte des Vorgehens von Armee und Polizei
    Menschenrechtler sind entsetzt darüber, mit welcher Härte Armee und Polizei in den Kurdengebieten vorgehen. Die umkämpften Stadtteile sind seit Monaten von der Außenwelt abgeschnitten, Strom und Wasserversorgung gekappt und es werden kaum mehr Lebensmittel hineingelassen. Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch:
    "Unabhängige Beobachter haben keinen Zugang zu den umkämpften Gebieten, um die Menschenrechtssituation dort zu untersuchen. Aber wir wissen, dass selbst in Innenstadtbezirken Panzer eingesetzt werden und die Zahl der zivilen Opfer im vergangenen Monat dramatisch angestiegen ist. Von Regierungsseite wird diese Tatsache ignoriert. Die Frage des Schutzes von Zivilisten und der Menschenrechte spielen bei diesen Operationen keine Rolle."
    Noch vor einem Jahr hatte es so ausgesehen als könne der Jahrzehnte alte Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Staat friedlich beigelegt werden. Rund 40.000 Menschenleben hat die Auseinandersetzung in den vergangenen 35 Jahren bereits gefordert.
    Hunderttausende von Soldaten und Polizisten und rund 60.000 so genannte Dorfschützer – in Wahrheit Paramilitärs - versuchten im Laufe der Jahre, die PKK, die zunächst für einen unabhängigen Staat kämpfte, militärisch zu besiegen. Tausende kurdischer Dörfer wurden für die Aufstandsbekämpfung zerstört, hunderttausende Menschen aus den kurdischen Provinzen vertrieben.
    PKK wird in der EU und den USA als terroristische Organisation geführt
    Die PKK schreckte ihrerseits nicht vor Bombenattentaten und Mordanschlägen zurück. Ihren Kampf finanzierte sie teilweise aus dem Drogenschmuggel. In Deutschland und anderen europäischen Staaten wird sie bis heute der Schutzgelderpressung beschuldigt. Sowohl in der EU als auch in den USA wird die PKK bis heute als terroristische Organisation geführt.
    Recet Tayyip Erdogan erkannte nach der Übernahme der Regierungsmacht 2002 schnell, dass dieser Bürgerkrieg nicht zuletzt dem wirtschaftlichen Aufstieg und der internationalen Reputation seines Landes im Wege stand. Gegen den Widerstand von Nationalisten und Militärs gab er im Jahr 2010 den Auftrag zu geheimen Friedensgesprächen.
    Im Jahr darauf trafen sich Unterhändler der PKK und der Regierung in der norwegischen Hauptstadt Oslo. Für seinen politischen Mut sahen manche Erdogan schon als Kandidaten für den Friedensnobelpreis. Es folgten regelmäßige Besuche von Emissären beim inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan. Die Besuchsregelungen für Öcalan wurden gelockert, die Bedingungen der Isolationshaft erleichtert. Nach 14 Jahren in der Einzelzelle durfte Öcalan wieder fernsehen.
    Ende März 2013 schließlich, anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes Newroz, erklärte Abdullah Öcalan den bewaffneten Kampf der Kurden für beendet. Die Kämpfer seiner PKK würden sich aus der Türkei zurückziehen, verkündete Öcalan in seiner Neujahrsbotschaft, der bewaffnete Kampf werde durch den demokratischen, friedlichen Streit der politischen Meinungen abgelöst. Das waren Worte, auf die die Regierung und Millionen Menschen lange gehofft hatten.
    Kurz darauf kündigte die PKK den Abzug ihrer Kämpfer aus der Türkei Richtung Nord-Irak an. Heute weiß man: Der Abzug samt Waffen hat nie vollständig stattgefunden. Sonst wäre die PKK in den nun wieder aufgeflammten Auseinandersetzungen nicht so schlagkräftig.
    Nach Friedensgesprächen: Kehrtwende Erdogans in der Kurdenfrage
    Für die Kehrtwende Erdogans in der Kurdenfrage gibt es wohl vor allem zwei Beweggründe. Der erste ist innenpolitischer Natur: Erdogan möchte das Amt des Staatspräsidenten mit mehr Macht ausstatten. Für eine Verfassungsänderung und die Einführung eines Präsidialsystems braucht er aber eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament – die zusätzlichen Stimmen der Kurdenpartei HDP würden dafür ausreichen. Doch als die sich dem Ansinnen verweigerten und in den Wahlkämpfen des vergangenen Jahres sogar gegen ein Präsidialsystem agitierten, habe sich Erdogan zum Abbruch der Versöhnungspolitik entschieden, vermuten viele.
    Die nötigen Mehrheiten will er nun mithilfe nationalistischer Wähler gewinnen. Der triumphale Wahlsieg seiner AK-Partei bei den vorgezogenen Wahlen im November vergangenen Jahres - sie gewann mit fast 50 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit zurück - schien diese Strategie zu bestätigen.
    Der zweite Beweggrund für das Ende des Friedensprozesses liegt in der Außenpolitik, genauer gesagt im Bürgerkrieg in Syrien, denn der brachte auch die Kurdenfrage wieder auf die politische Tagesordnung der Türkei. Für die Kurden bedeutet der erhoffte Sturz des Assad-Regimes in Syrien - gepaart mit dem wirtschaftlichen Erfolg des De-facto-Kurdenstaats im Nordirak - eine neue Perspektive für den alten Traum eines geeinten Kurdistans. Erdogan sieht die Gefahr des Separatismus und will solche Bestrebungen vor allem im eigenen Land im Keim ersticken.
    Kurden sind enttäuscht über wenige Zugeständnisse der türkischen Regierung
    Die Kurden ihrerseits sind bitter enttäuscht darüber, dass die türkische Regierung ihnen politisch so wenig Zugeständnisse für den Waffenstillstand geboten hatte: Weder wurde PKK-Chef Öcalan aus dem Gefängnis entlassen, noch wurden die Existenz und die Rechte der Kurden in einer neuen Verfassung verankert. Die Kurden - aber auch andere Minderheiten - wünschen sich, dass bereits in der Präambel der neuen Verfassung die Wendung "türkisches Volk" durch die neutralere Formulierung "Volk der Republik Türkei" ersetzt wird. Damit wäre nicht mehr jeder Bürger automatisch ein Türke.
    Auch in der Frage erweiterter politischer Freiheiten haben die Kurden kaum Zugeständnisse bekommen. Kurdisch wurde zwar als Wahlfach in den Schulen zugelassen und kurdischen Angeklagten zugestanden, sich vor Gericht in ihrer Muttersprache zu verteidigen. Eine Autonomie für die Kurdengebiete im Südosten des Landes scheint aber ausgeschlossen. Dabei hatte Erdogan selbst einmal gesagt, ein starkes Land wie die Türkei brauche sich vor einem föderalen System nicht zu fürchten. Doch davon ist keine Rede mehr. Stattdessen kann noch immer jeder, der mit dem Kampf der Kurden sympathisiert, wegen Terror-Propaganda vor Gericht gestellt werden.
    Nun sprechen wieder die Waffen. Etwa in der Innenstadt von Diyarbakir. Im Bezirk Sur, unweit der historischen Stadtmauern, haben sich hunderte junge bewaffnete Kurden verschanzt und leisten den türkischen Sicherheitskräften seit Wochen Widerstand. Täglich gibt es Tote auf beiden Seiten. In der normalerweise lebhaften Haupteinkaufsstraße von Diyarbakir haben die Geschäfte längst zu gemacht. Hier verläuft eine Art Demarkationslinie. Auf der linken Seite der Straße haben Polizei und Militär alle Zugänge in das Gassengewirr der Altstadt gesperrt. Mal mithilfe von Absperrgittern, mal mit improvisierten Mauern und dahinter postierten Panzerwagen. Überall stehen maskierte Soldaten und Polizisten.
    Angehörige von Opfern sind in Hungerstreik getreten
    Die Bilder, die aus dem abgeriegelten Stadtteil nach draußen dringen, zeigen Zerstörungen wie in Syrien: Barrikaden, in die Luft gesprengte Moscheen, zerschossene Schulen. Zehntausende mussten bereist von dort fliehen. Eine davon ist Münever Erpek mit ihren vier Kindern. Sie müssen seitdem in einem leer stehenden, abbruchreifem Haus leben, ohne Möbel, ohne fließend Wasser und Heizung. Die vier Kinder sind traumatisiert, sagt die Mutter:
    "Mal kamen die Raketen von der einen, mal von der anderen Seite geflogen. Wir lagen stundenlang auf dem Boden. Nach draußen haben wir uns nicht getraut. Die Kinder riefen immer: Mama, lass uns von hier fortgehen, die werden uns töten. Aber ich wusste lange nicht, wohin. Dann sind wir gerannt, nur mit unseren Kleidern am Körper. Alles haben wir zurückgelassen."
    Im örtlichen Menschenrechtsverein sind Angehörige von Opfern der Kämpfe in einen Hungerstreik getreten. Stumm sitzen sie mit einem Porträt ihres Kindes in einer Ecke auf ausgebreiteten Decken. Sie würden von der Armee daran gehindert, die Leichname ihrer Söhne und Töchter zu bergen und zu bestatten, sagen sie. Hier nennt man die Opfer "Märtyrer" im Kampf für eine gerechte Sache.
    "Mein Bruder hatte sich vor fünf Monaten der Guerilla angeschlossen. Er hat so viel Unrecht vonseiten des Staates erlebt. Drei Monate saß er unschuldig im Gefängnis. Da hat er es nicht mehr ausgehalten."
    Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen "Akademiker für den Frieden"
    Darüber wird in türkischen Medien kaum berichtet. Und wenn, dann geraten die Journalisten schnell in den Verdacht, die PKK zu unterstützen. So erging es auch den über 1.000 Wissenschaftlern, die eine Petition unterschrieben hatten, in der das Vorgehen der türkischen Regierung in den Kurdengebieten kritisiert wird. Daraufhin wurden Dutzende Akademiker vorübergehend festgenommen. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen sie unter anderem wegen "Propaganda für eine Terrororganisation", womit die PKK gemeint ist. Die Internetseite der "Akademiker für Frieden", wie sich die Wissenschaftler selbst nennen, wurde gesperrt. Staatspräsident Erdogan zeigte sich über die Kritiker wütend:
    "Diese Leute sind finster, sie sind niederträchtig und barbarisch. Denn wer sich mit barbarischen Menschen solidarisiert, ist selber barbarisch. Ich habe die Gerichte und die Universitätsleitungen unseres Landes aufgefordert, gegen solche Verstöße vorzugehen."
    Im Regierungslager ist immer wieder zu hören, man wolle zum Friedensprozess mit den Kurden zurückkehren. Aber zunächst müsse der Terror besiegt werden. Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch hält diese Strategie für zynisch:
    "Die Regierung könnte darauf spekulieren, mit ihren Angriffen die PKK und ihre Jugendorganisation schwächen zu wollen, sie aus den Großstädten zu vertreiben und danach wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Aber wie will die Regierung die Menschen in dieser Region für einen neuerlichen Friedensprozess gewinnen, wenn der Eindruck entsteht, der türkische Staat verhalte sich generell anti-kurdisch und mache in seinem Kampf keinen Unterschied zwischen bewaffneten Gruppen und der Zivilbevölkerung?"
    Ausland zeigt wenig Interesse für Bürgerkrieg und undurchsichtige Haltung gegenüber Islamisten
    Zur Enttäuschung von Menschenrechtlern und Demokraten in der Türkei, zeigt sich das Ausland wenig interessiert an dem Bürgerkrieg im Südosten des Landes, der undurchsichtigen Haltung gegenüber islamistischen Extremisten und an der Bedrohung demokratischer Freiheiten.
    Die Menschenrechtssituation im Land verschlechtert sich zusehends. Nirgendwo in der westlichen Welt sind so viele Journalisten inhaftiert wie in der Türkei. Oppositionelle Zeitungen wurden zwangsweise enteignet, die Kontrolle des Internets verschärft und der Geheimdienst mit neuen weitreichenden Befugnissen ausgestattet. Gegen friedliche Demonstranten kommt es immer wieder zu Übergriffen der Polizei, ohne dass die verantwortlichen Beamten mit einer Bestrafung zu rechnen hätten.
    Gerichtsprozesse erfüllten weiterhin nicht die internationalen Standards für faire Verfahren, dies galt vor allem für Verfahren auf Grundlage der Antiterrorgesetze, beklagen Menschenrechtsgruppen. Die AKP brachte ein Gesetz durchs Parlament, das Ankara fast uneingeschränkte Gewalt bei der Ernennung von Richtern und Staatsanwälten gibt.
    Zentrale Stellen im Rechtssystem der Türkei werden vom sogenannten "Hohen Rat von Richtern und Staatsanwälten" besetzt. Diesem steht nun ein Vertreter des Justizministeriums vor. Auf ähnliche Weise sind die Universitäten des Landes unter die strenge Aufsicht der Regierung gestellt worden. Für all das sollte sich Europa interessieren, meint Emma Sinclair-Webb:
    "Ich glaube, für Europa hat die Flüchtlingskrise Priorität; ihnen ist wichtig, dass die Flüchtlinge in der Türkei bleiben. In diesem Zusammenhang wurde darum mit der türkischen Seite so gut wie gar nicht darüber gesprochen, dass die Türkei kurz davor ist, wieder völlig im Bürgerkrieg zu versinken - verbunden mit einer Hinwendung zu einer zunehmend autoritären Innenpolitik. Dabei wird übersehen, dass dies die Situation der Flüchtlinge negativ belastet. Und vor allem, dass das eine neue Flüchtlingskrise lostreten könnte. Die Kurden im Land könnten dann nämlich gezwungen sein, die Türkei zu verlassen."