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Terry Eagleton: "Kultur"
Geld als Grundlage

Der 74-jährige britische Literaturtheoretiker Terry Eagleton hat sich schon in früheren Veröffentlichungen an Globalbegriffe gewagt. In seinem neuen Buch schreibt der bekennende Marxist über die Rolle der Kultur im Kapitalismus. Seine Kernbotschaft: Kultur, so wie sie sich derzeit darstellt, ist überbewertet.

Von Brigitte Neumann | 29.05.2018
    Revolutionäre 1. Mai Demo 2014 in Berlin Kreuzberg
    Eine Kultur nach Eagletons Geschmack müsste eine Utopie jenseits der kapitalistischen Wirklichkeit entwerfen und vor allen Dingen wieder von Eigentum, Ausbeutung, Klassenkampf handeln (picture alliance / dpa / Ole Spata)
    Als Joachim Lux, Intendant des Hamburger Thalia Theaters, kürzlich einen Vortrag über die Bedeutung der Kultur hielt, nannte er sie eine Gegenwelt. Das Publikum, die Handwerker, Zahnärzte und Bademeister, mit einem Wort, die Leistungsträger der Gesellschaft, bräuchten eine Gegenwelt mit Künstlern als Meister des Nutzlosen. Denn nur sie, die Künstler, seien in der Lage, auszusteigen, die Zeit anzuhalten, was nur im Reich des Spiels möglich sei. Und wenn es gut liefe, würden sie die anderen dorthin mitnehmen, die Handwerker, Zahnärzte und Bademeister. Die anschließend gestärkt und erneuert wieder an ihr Tagwerk gehen könnten.
    Das ist eine der geläufigen Definitionen von Kultur, die auch Terry Eagleton in seinem Buch "Kultur" anführt. Eine Verabredung zu gegenseitigem Nutzen. Denn, nicht zu vergessen, die Spieler und Zeitanhalter, brauchen ihrerseits schließlich das Geld der Leistungsträger. Und das ist die Grundlage jeder Kultur. Den Satz bitte fett gedruckt denken. Denn der englische Literaturtheoretiker Terry Eagleton möchte, dass wir den Blick weg von den elaboriert geistigen Sphären der Kultur hin zu den materiellen Voraussetzungen wenden. Und er tadelt immer mal wieder:
    "Mancherorts ist Kultur zu einer Möglichkeit geworden, nicht über Kapitalismus zu reden."
    Eagleton datiert die verbreitete Nutzung des Begriffes Kultur auf Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung Fahrt aufnahm. Die Arbeit in Baumwollfabriken und Kohlegruben geschah oft unter elenden Bedingungen. Eagleton schreibt:
    "Je seelenloser und verarmter die alltägliche Erfahrung erscheint, desto eifriger wird das Ideal der Kultur als Kontrast propagiert. Je gröber die materialistische Zivilisation wird, desto erhabener und jenseitiger erscheint die Kultur."
    Ruf nach neuer Utopie
    Eagleton ist Marxist. Er begreift die ökonomischen Machtverhältnisse als grundlegend in jeder Hinsicht, auch in kultureller. Und hat recht, wenn er meint, diese Sichtweise sei unter westlichen Kulturschaffenden weitgehend aus der Mode. Eine Kultur nach Eagletons Geschmack müsste eine Utopie jenseits der kapitalistischen Wirklichkeit entwerfen, ein Ziel, dem es sich lohnt entgegen zu streben. Sie müsste vor allen Dingen wieder von Eigentum, Ausbeutung, Klassenkampf handeln. Nicht wie heute, wo die Neu-Linken, wie er sie nennt, an kaum mehr als an Diversität, Sexualität und Inklusion interessiert sind. Für Eagleton Nebenschauplätze, die durchaus mit dem Kapitalismus harmonieren. Das mag sein, möchte man entgegnen, aber wie soll man unter globalen Marktverhältnissen die Hauptschauplätze, nämlich die Besitzverhältnisse, umpflügen? So gut wie aussichtslos. Da ist es doch reizvoller, ab und zu mal die sexuelle Orientierung zu wechseln oder - weniger folgenreich - einen eskapistischen Roman zu lesen.
    "Unter dem Einfluss der harmonisierenden Wirkung der Kultur sind wir imstande, uns aus unserer kleinlichen materiellen Fixierung auf Rang, Klasse, Macht, Geschlecht, Ethnizität, soziale Ungleichheit und dergleichen zu befreien und sie in einer höheren Sphäre aufzuheben. Scheint es schon keine brauchbare politische Lösung für solche Probleme zu geben, liefert uns die Kultur doch eine geistige. Insofern erfüllt sie eine ähnliche Funktion wie die Religion ... Sie ist Opium für Intellektuelle."
    Die Gier des Kapitalismus
    So spricht der 74-jährige Altlinke Terry Eagleton also Wahrheiten aus, die ganz frisch klingen, nicht nur weil er den süffisant ironischen Ton beherrscht, sondern auch deshalb frisch, weil alte Wahrheiten plötzlich wieder zu neuen Wirklichkeiten passen. Etwa die Wahrheit, dass der Markt vulgo Kapitalismus sehr hungrig ist und sich alles einverleibt, auch die Universitäten, wie der in Lancaster lehrende Literaturtheoretiker weiß:
    "Gegenwärtig werden die jahrhundertealten, traditionsreichen Universitäten als Zentren humanistischer Kritik zerschlagen, indem sie unter der Herrschaft einer philisterhaften Managerideologie in pseudokapitalistische Unternehmen umgewandelt werden. Die akademischen Institutionen werden wie Wettbüros und Imbissketten zu bloßen Marktorganen. Der Tod der Geisteswissenschaften zeichnet sich bereits am Horizont ab."
    Das Buch von Terry Eagleton hätte am besten ein Essay werden sollen, denn der Autor hat alles, was es dafür braucht, Stilempfinden, Polemik, die Lust, entlegene Aspekte miteinander zu verknüpfen. Und Witz. Über Massenkultur heißt es:
    "Gewiss, die Musik von Justin Bieber erreicht viele gewöhnliche Menschen, aber das gelingt den Windpocken auch."
    So aber ist es ein teils längliches Sachbuch geworden, dessen Exkurse zu Edmund Burke, Johann Gottfried Herder und Oscar Wilde in sich zwar interessant sind, zur Kernbotschaft dieses Buches aber wenig beitragen. Die nämlich heißt: Kultur, so wie sie sich derzeit darstellt, ist überbewertet.
    "Tatsächlich sind die zentralen Fragen, denen sich die Menschheit im neuen Jahrtausend gegenübersieht, alles andere als kulturell. Sie sind weit konkreter und materieller. Krieg, Hunger, Drogen, Waffen, Völkermord, Krankheit, Umweltkatastrophen: Alle diese Phänomene haben ihre kulturellen Aspekte, aber Kultur macht nicht ihren Kern aus. Wenn jene, die von Kultur sprechen, dies nicht tun können, ohne den Begriff aufzubauschen, sollten sie vielleicht besser schweigen."
    Terry Eagleton: Kultur
    Aus dem Englischen von Hainer Kober. Ullstein Verlag, 208 Seiten, 20 Euro