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Teurer Schmelztiegel

Energie - sicher, klimafreundlich und unerschöpflich - das versprechen die Fusionsforscher seit Jahrzehnten. In irdischen Reaktoren versuchen sie das nachzuvollziehen, was im Inneren der Sonne passiert: Wasserstoff verschmilzt zu Helium, wobei jede Menge Energie frei wird. Doch das Internationale Fusionsexperiment ist in schweren Wassern, gerade knapp vor der Pleite gerettet. Was läuft schief bei Iter?

Von Frank Grotelüschen | 08.08.2010
    Die Provence in Südfrankreich, 50 Kilometer nördlich von Marseille. Ein schöner Sommertag, nicht zu heiß, es weht ein kräftiger Wind. Neil Calder steht auf einer Hügelkuppe und lässt den Blick schweifen. Über die einsame, sanfte Landschaft voller Eichenwälder und Olivenhaine. Und über die Riesenbaustelle direkt vor ihm.

    "Hier vor uns sehen Sie eine der größten ebenen Flächen der Welt. Ein Areal so groß wie 66 Fußballfelder, einen Kilometer lang, 400 Meter breit. Hier werden wir Iter bauen."

    Der Wald ist gerodet, das Gelände planiert. Im Moment herrscht hier friedliche Ruhe. Doch bald werden Bagger, Bulldozer und Betonmischer anrücken. Werden Baugruben ausheben, Fundamente ins Erdreich rammen, Hallen aus dem Boden stampfen.

    "In den nächsten acht, neun Jahren wird es hier zugehen wie in einem Ameisenhaufen. 4000 bis 5000 Leute gleichzeitig werden hier Hallen bauen und Komponenten montieren, die von unseren Partnern aus aller Welt kommen. So dass wir 2019 mit den Experimenten loslegen können."

    Neil Calder gehört zum Team von Iter, dem größten und teuersten Experiment aller Zeiten. Ein Versuchsreaktor, der helfen soll, die Energieprobleme der Menschheit zu lösen. Dahinter steckt eine alte Vision, geboren in den 50er Jahren – die friedliche Nutzung der Kernfusion.

    Es ist der Prozess, der die Sonne scheinen lässt: Wasserstoffkerne verschmelzen zu Helium, wobei jede Menge Energie frei wird. Ein Kilogramm Wasserstoff liefert dabei genauso viel Energie, als würde man 10.000 Tonnen Steinkohle verheizen. Ließe sich die nukleare Fusion in Kraftwerken bändigen, könnte der Energiehunger der Menschheit bis auf weiteres gestillt sein: Der Brennstoff Wasserstoff ist praktisch unerschöpflich. Und: Es entstehen weder klimaschädliche Treibhausgase noch giftige Schadstoffe. Die Katastrophe eines Gaus scheint ausgeschlossen. Zwar würde auch ein Fusionsreaktor Atommüll erzeugen. Der aber würde nur ein paar Jahrzehnte lang strahlen und nicht Jahrtausende wie der Abfall eines Kernkraftwerks.

    Und so soll der Fusionsreaktor funktionieren: Riesige Magnete halten ein Gasgemisch aus Deuterium und Tritium in der Schwebe, das sind schwere Varianten von Wasserstoff. Dann wird das Gas zu einem Plasma erhitzt, bis auf 150 Millionen Grad. Sind Temperatur und Dichte hoch genug, können Deuterium und Tritium zu Helium verschmelzen. Das Plasma ist gezündet und liefert Energie.

    Iter – lateinisch: der Weg – soll der Meilenstein werden auf dem Weg zu einem Fusionskraftwerk. Er soll zeigen: Mit Fusion lässt sich tatsächlich Energie gewinnen. Iter ist die Nagelprobe. Klappt das Experiment, sollte es möglich sein, ein Kraftwerk zu bauen. Scheitert es, hat sich die Fusion in dieser Form als Sackgasse erwiesen.

    Seit 2006 steht fest: Iter wird gebaut. Gut fünf Milliarden Euro soll das größte wissenschaftliche Experiment aller Zeiten kosten. Da Iter in Frankreich entsteht, zahlt die Europäische Union als Gastgeber fast die Hälfte. Die andere Hälfte teilen sich sechs Partner: Japan, China, Südkorea, Indien, Russland und die USA. Doch dann stellt sich heraus: Das Geld wird nicht reichen. Anfang Mai liegen konkrete Zahlen auf dem Tisch, zumindest für Europas Anteil. Statt 2,7 Mrd. Euro soll die EU nun 7,2 Milliarden zahlen.

    "Wir haben die Nachricht mit großem Schrecken wahrgenommen."

    Georg Schütte, Staatssekretär, Bundesforschungsministerium. Die Politik ist verärgert – und fordert Konsequenzen.

    "Wir wollen eine Kostenbremse und einen Kostendeckel. Und wir wollen ein Management, das diesem Projekt angemessen ist. Wir können es uns nicht leisten, für Diplomatie Millionen aus dem Fenster zu werfen!"

    Eine Ohrfeige für die Fusionsforschung. Das Projekt Iter scheint auf der Kippe zu stehen. Schütte:

    "Wir wollen Iter, aber wir wollen Iter nicht zu jedem beliebigen Preis!"

    Wie konnte es dazu kommen? Wie konnten die Kosten für den Versuchsreaktor derart aus dem Ruder laufen? Und was ist ein wissenschaftliches Megaprojekt wie Iter der Gesellschaft wert?

    "It was started from a summit…"

    Hiroshi Matsumoto. Iter-Veteran, seit fast 20 Jahren dabei.

    ""Das Iter-Projekt wurde auf einem politischen Gipfel geboren, und zwar 1985. Beteiligt waren US-Präsident Ronald Reagan, der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow und der französische Präsident François Mitterrand."

    Iter beginnt als idealistischer Traum der mächtigsten Männer der Welt. Mit Gorbatschow deutet sich das Ende des kalten Krieges an. Als Symbol für den Aufbruch soll ein wissenschaftliches Gemeinschaftsprojekt fungieren, ein Versuchsreaktor für die Kernfusion. Ehemals verfeindete Nationen sollen an einem Strang ziehen: die USA, die Sowjetunion, Europa, Japan.

    "1987 wurde eine Konzeptstudie in Auftrag gegeben. Die an der Studie beteiligten Experten trafen sich alle sechs Monate in Garching bei München, am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik, und besprachen dort, wie so eine Anlage ungefähr aussehen könnte. Im Dezember 1990 war diese erste Studie fertig."

    Die groben Eckdaten stehen fest: ein reifenförmiger Reaktor, 16 Meter Durchmesser, 1500 Megawatt Leistung. Ende 1991 erhält die Sache eine gewaltigen Schub. Im europäischen Versuchsreaktor Jet, dem damals größten Fusionsexperiment der Welt, gelingt es, Deuterium und Tritium zu Helium zu verschmelzen. Erstmals überhaupt flackert in einem Reaktor ein Fusionsfunken auf, wenn auch nur für zwei Sekunden. Damit ist bewiesen: Die kontrollierte Kernfusion ist möglich, jedenfalls im Prinzip. Kurze Zeit später gelingt ähnliches in Japan und den USA. Ein Durchbruch, der die Forscher euphorisch stimmt. Matsumoto:

    "Diese Maschinen haben sehr überzeugende Ergebnisse geliefert und haben Vertrauen geschaffen, dass so eine Maschine wie Iter tatsächlich funktionieren kann. Und damit konnten wir anfangen, Iter konkret zu entwerfen."

    Das erklärte Ziel der Planer: Erstmals überhaupt soll ein Reaktor ein Plasma erzeugen, das sich zu einem Energie spendenden Fusionsfeuer entzündet und von selber weiterbrennt – minuten-, wenn nicht stundenlang, denn erst dann würde es den Namen Kraftwerk verdienen. 1998 ist der Bauplan fertig. Hiroshi Matsumoto legt ein Dokument auf den Tisch, dick wie ein Telefonbuch.

    "Das ist bloß die Zusammenfassung. Dazu gehören noch dicke Stapel von Bauzeichnungen und Berechnungen. Das waren die Pläne für den großen Iter – ein Versuchsreaktor doppelt so groß wie die Anlage, die wir jetzt bauen. Aber das Projekt war den Politikern mit knapp sieben Milliarden Euro dann doch zu teuer. Die USA stiegen aus. Wenigstens entschieden sich die drei verbliebenen Partner Russland, Europa und Japan weitermachen. Aber sie beschlossen, die Anlage deutlich einzudampfen."

    Notgedrungen machen sich die Physiker an die Überarbeitung der Pläne und specken den Reaktor kräftig ab. Matsumoto:
    "2001 stellten wir den Bauplan für den heutigen Iter fertig. Die Maschine ist zwar kleiner. Aber die schriftliche Zusammenfassung ist viel dicker."

    Matsumoto wuchtet ein weiteres Telefonbuch auf den Tisch, deutlich schwerer als das erste. Darin steht: Der Durchmesser der Reaktorkammer schrumpft von 16 auf zwölf Meter, die Leistung sinkt von 1500 auf 500 Megawatt. Geschätzte Kosten: Rund vier Milliarden Euro. Das Problem:

    "2001 wollte sich niemand als Gastland zur Verfügung stellen. Erst zwei Jahre später meldeten sich Japan, Europa und auch Kanada mit Standortvorschlägen zu Wort. Plötzlich hatten wir ein Überangebot an Bewerbern, eine regelrechte Konkurrenzsituation."

    Und plötzlich finden auch andere Länder Geschmack an der Fusion. 2003 klinken sich China und Südkorea bei Iter ein, auch die USA machen wieder mit. Doch die neuen Partner machen die Verhandlungen nicht gerade leichter. Es beginnt ein zähes politisches Ringen. Hiroshi Matsumoto:

    "Südkorea und die USA unterstützen die japanische Bewerbung, Russland und China die europäische. Das lief auf ein Patt hinaus. Zwei Jahre wurden mit Verhandlungen verschwendet. Dann endlich, im Mai 2005, konnten sich die Politiker auf einen Kompromiss einigen."

    Die Wahl fällt auf Cadarache in Südfrankreich. Der Kompromiss sieht vor: Europa zahlt als Gastgeber 45 Prozent, die anderen Partner sind mit jeweils neun Prozent dabei. Japan bekommt Sonderrechte zugestanden, ein Trostpflaster für den entgangenen Standort. Im November 2006 wird in Paris der Iter-Vertrag unterzeichnet, auch von Indien, das inzwischen als siebter Partner eingestiegen ist. Damit ist Iter zu einem wirklich globalen Projekt geworden. Und genau das, sagt Matsumoto, ist das Problem.

    "Basis von Iter ist eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen den Mitgliedsländern. Das ist anders als bei anderen internationalen Forschungseinrichtungen. Beim Teilchenforschungszentrum Cern geben die Europäer die Marschrichtung vor. Bei der Internationalen Raumstation ISS sind es die Amerikaner. Bei Iter dagegen haben wir es mit Diskussionen zwischen vielen gleichberechtigten Partnern zu tun, und die kosten nun mal Zeit. Also hat es etwa vier Jahre gedauert, bis sich die Iter-Partner verständigt haben, wie sie beim Bau der Anlage im Detail vorgehen wollen."

    Vier Jahre, um die Aufgaben zu verteilen, Verträge abzuschließen, mit der Industrie zu verhandeln, Personal einzustellen. Das Gelände, auf dem Iter stehen soll, ist zwar vorbereitet. Die Bäume sind gefällt, die Fläche planiert. Aber die eigentlichen Bauarbeiten beginnen erst jetzt, im Sommer 2010 – Jahre später als geplant.

    Doch die Verzögerungen sind nicht das Schlimmste. Im Herbst 2008 dämmert den Fusionsforschern, dass sie den Kostenrahmen sprengen werden, und zwar gewaltig. Die 5,3 Milliarden Euro, die man 2006 als Baukosten für Iter festgelegt hatte, waren offenbar viel zu optimistisch, sagt Iter-ProjektleIter Norbert Holtkamp.

    "Vielleicht ist man immer ein bisschen zu optimistisch – was eigentlich gut ist. Das ist ja das Gute im Wesen eines Menschen, dass er eigentlich immer ein bisschen schneller da sein möchte, wie er eigentlich kann."

    Zwei Jahre rechnen und kalkulieren die Experten. Dann, im Mai, legen sie die Zahlen vor. Sie sind, zumindest für Gastgeber Europa, schockierend. Statt der vorgesehenen 2,7 soll die Europäische Union nun 7,2 Milliarden Euro zahlen.

    "Die Zahl ist nirgendwo gut angekommen. Natürlich kann man verstehen, dass solche Zahlen nicht gut ankommen. Wichtig ist zu erklären, was das Ziel von Iter ist. Warum wir das so machen, wie wir das machen. Das war nicht aus Dummheit so oder aus Unfähigkeit. Sondern mit dem ganz klaren Ziel, Technologien für die Zukunft zu entwickeln, die den anderen Ländern helfen, vor allem auch den Ländern, die den großen Energiebedarf in den nächsten 30 Jahren haben. Für Technologien, die CO2-frei sind."

    Doch was genau steckt hinter der Kostenexplosion? Im Wesentlichen sind es drei Ursachen, sagt Norbert Holtkamp.

    "Die erste ist, dass der Baukosten-Index sehr viel schneller angewachsen ist in den letzten zehn Jahren als der inflationäre Index, mit dem die Iter-Kosten extrapoliert wurden. Das hat nicht nur Iter getroffen. Das hat viele Projekte in Europa getroffen."

    Europa ist für die Infrastruktur von Iter verantwortlich. Die EU ist also verpflichtet, sämtliche Gebäude, Straßen und Sicherheitseinrichtungen in Cadarache zu bezahlen. Doch die Baukosten seien in den letzten Jahren deutlich stärker gestiegen als ursprünglich angenommen, sagt Holtkamp. Gleiches gelte für jene Materialien, aus denen Iter bestehen wird: supraleitende Spezialmetalle, besondere Legierungen und jede Menge Stahl.

    Grund 2: An manchen Stellen haben die Forscher die Komplexität der Anlage unterschätzt. Denn die Technik, die hinter Iter steckt, ist höchst kompliziert. Zum Beispiel die 18 riesigen Magnetspulen, angeordnet zu einem überdimensionalen Ringreifen. Wie ein Käfig soll er das Plasma, das extrem heiße Wasserstoffgas, gefangenhalten.

    "Die Spulen sind 16 Meter hoch – es ist ein sehr großes Volumen, wo ein Magnetfeld erzeugt wird."

    Günter Janeschitz, Chefingenieur von Iter.
    "Die Hauptmagnetfelder, das sind an der Spule 13 Tesla. Das ist praktisch die Grenze der heutigen Technologie für große supraleitende Spulen. Wir haben hier einen sehr, sehr großen Sprung machen müssen in der Technologie."

    Die starken Magnetfelder lassen enorme Kräfte auf das Reaktorgefäß wirken. Janeschitz:

    "Der Strom in so einem Kabel – das Kabel hat etwa fünf Zentimeter Durchmesser – ist 60.000 Ampere. Dieses Kabel wird großen Kräften ausgesetzt. Wenn Sie das Magnetfeld von Iter einschalten, haben die Spulen eine radiale Kraft von 35.000 Tonnen etwa."

    35.000 Tonnen werden an dem Reaktor ziehen und zerren. Damit die Anlage nicht auseinander bricht, wird sie in ein extrem stabiles Korsett aus Stahl eingesetzt. Und: Um die Magnetfelder überhaupt erzeugen zu können, müssen die Spulen supraleitend sein, müssen elektrischen Strom verlustfrei und ohne Widerstand leiten können. Das aber funktioniert nur bei extremer Kälte. Günter Janeschitz:

    "Die supraleitenden Spulen werden durch flüssiges Helium gekühlt bei 4,5 Kelvin. Das ist 4,5 Grad über dem absoluten Nullpunkt bei minus 273 Grad. Um das machen zu können, muss man die Spulen vor Wärmeeinstrahlung schützen."

    Die Spulen stecken in einer überdimensionalen Thermoskanne, verbunden mit einem der größten Kühlschränke der Welt. Er wird eine eigene, riesige Halle füllen. Ursprünglich dachten die Ingenieure, sie könnten die Magneten, gefertigt von der Industrie, im Prinzip einfach einbauen und einschalten. Inzwischen ist klar: Die Technik ist derart komplex, dass man sie vorher ausgiebig testen muss, und zwar unter realen Bedingungen, auf 4,5 Grad Kelvin gekühlt. Diese Tests aber kosten zig Millionen – Geld, das vorher nicht eingeplant war.

    Eine weitere böse Überraschung: Das Wasserstoff-Plasma wird sich anders verhalten als erhofft. Um es auf Betriebstemperatur zu bringen, benötigen Janeschitz und seine Leute gleich mehrere Verfahren.

    "In Iter werden drei Heizmethoden eingesetzt. Das eine ist Neutralteilchen-Injektion."

    Hierbei schießt ein Beschleuniger schnelle Teilchen ins Plasma. Außerdem schicken die Physiker Radio- und Mikrowellen ins Gas und heizen es – ähnlich wie bei einem Induktionsherd in einer Hightech-Küche – mit elektrischem Strom. Klappt alles, wird das Plasma im Inneren des Reaktors bis auf 150 Millionen Grad erhitzt. Dann soll die Fusion von Wasserstoff zu Helium einsetzen und über Minuten aufrecht erhalten werden. Doch Anfang dieses Jahrzehnts, als die Baupläne für Iter längst fertig waren, dämmerte den Experten: Es dürfte deutlich schwieriger werden als erwartet, das Plasma im Magnetkäfig im Zaum zu halten. Janeschitz:

    "Das ist wie bei einem Luftballon: Wenn ich den aufblase, und der hat irgendwo eine dünne Stelle, dann beult er sich aus, und dann platzt er. Und das passiert genau im Plasma. Dieser Rand beult sich aus. Und dann platzt er kurz, es wird kurz ein Teilchenstoß herausgelassen. Und dann schließt sich das Ganze wieder – zum Unterschied zum Luftballon, der sich nicht mehr schließt."

    Kleine Eruptionen, die bei Iter so zahlreich werden dürften, dass sie die Reaktorwand im Laufe der Jahre stark schädigen würden. Die Folge: eine allzu schnelle Abnutzung. Einige Forscher aber fanden einen Ausweg: extra Magnetspulen, die zusätzliche Magnetfelder erzeugen, Störfelder genannt.

    "Die haben festgestellt, dass diese Störfelder zu einem kleinen Loch in diesem Ballon führen, der langsam permanent Luft ablässt und es nicht zu dieser Ausbeulung kommt. Dadurch stabilisiert man diese Instabilität. Man kriegt dann ein ruhiges Plasma, und dadurch kann man das Problem umgehen."

    Konkret bedeutet das: Günter Janeschitz und seine Kollegen werden bei Iter 27 zusätzliche Spulen einbauen müssen – zu Mehrkosten von über 100 Millionen Euro.Technische Änderungen wie diese machen Iter zwar teurer. Aber:

    "Das ist ein kleiner Anteil, 20 Prozent oder so. Das ist relativ wenig","

    sagt Projektleiter Norbert Holtkamp. Denn den wohl größten Batzen an den Mehrkosten dürfte Grund 3 zu verantworten haben: die Projektstruktur von Iter – unübersichtlich, überbürokratisch, ineffizient. Holtkamp:

    ""Im Jahre 2003, als die Kostenabschätzung gemacht wurde, war es so, dass nur drei Parteien dabei waren – Japan, Europa und Russland. Da hat man eine Kostenabschätzung gemacht, die davon ausgeht, dass drei Parteien das bauen. Und dann sind es ja immer mehr geworden. Heute sind wir sieben Parteien."

    Und jeder dieser sieben Partner möchte größtmöglichen Nutzen aus dem Projekt ziehen. Möchte größtmöglichen Einfluss auf das Geschehen haben. Möchte seine heimischen Industrieunternehmen beschäftigt sehen. Möchte bei der Entwicklung sämtlicher Kerntechnologien dabei sein. Und das macht die Sache teuer:

    "Wenn sieben Bäcker einen Kuchen backen, muss jeder seine eigene Backstube zuhause haben. Und die Investitionskosten für die Backstube bleiben ja gleich – ganz egal, ob sie nur ein Brötchen backen oder 20."

    Das Ganze läuft nicht etwa so, dass die sieben Iter-Partner ihre Beiträge bar in einen Topf zahlen, und eine kleine, effizient arbeitende Zentrale baut dann den Reaktor. Stattdessen lässt jeder Partner die Komponenten für Iter zuhause von den eigenen Unternehmen fertigen, um sie dann nach Frankreich zu befördern. Ein Beispiel:

    "Die supraleitenden Kabel, die für die Magneten gebraucht werden – das ist eine Schlüsseltechnologie. Diese Schlüsseltechnologie möchte natürlich jeder im Griff haben. Und deswegen machen sechs der sieben Länder Kabel für Iter. Das heißt: Sechs der sieben Länder müssen eine Kabelfabrik haben und eine Halle und eine Maschine, die diese Kabel aufrollt und wickelt, eben die gesamte Infrastruktur."

    Im Prinzip hätte eine Fabrik auf der Welt gereicht. Sie hätte die Kabel für Iter deutlich günstiger fertigen können. Aber genau das habe die Politik ja gar nicht gewollt, sagt Holtkamp.

    "Das wäre sicherlich billiger gewesen. Aber damit wäre das Ziel eben nicht erfüllt gewesen. Denn es gibt ja zwei Ziele bei Iter: Das eine ist zu zeigen, dass wir Fusion machen können und einen Reaktor bauen können. Und das andere klar definierte Ziel war ja eben gerade, diese Infrastruktur in den Ländern aufzubauen."

    Würde nur ein Land die Kabel produzieren, hätte auch nur dieses eine Land jenes Know-how erworben, das man später für den Bau eines Fusionskraftwerks bräuchte. Dieses Know-how aber will jeder der Partner. Und jeder der Partner versucht schon heute, dieses eigene Know-how in Hinblick auf eine spätere Konkurrenzsituation für sich zu behalten. Die Folge: Geheimhaltung statt Transparenz. Holtkamp:

    "Das war eine ganz bewusste Entscheidung, das so aufzuziehen, dass zuhause diese Backstuben überall fertig sind, wenn das Projekt zu Ende ist."

    Eben diese Strategie der vielen Backstuben macht das Iter-Projekt unübersichtlich, ineffizient und teuer. So hat jeder der sieben Partner seine eigene Fusions-Agentur gegründet, und jede dieser Agenturen darf bei Entscheidungen mitreden. Die Agentur der EU etwa heißt "Fusion for Energy". Obwohl der Reaktor in Südfrankreich gebaut wird, sitzt sie in Barcelona – eine eigenwillige Konstruktion. Die Iter-Zentrale in Cadarache hat nur relativ wenig Macht. Sie verfügt nicht einmal über ein Fünftel des Gesamtetats. Dass diese ausufernde Organisationsstruktur die Kosten für Iter enorm nach oben treiben würde, hatten weder Forscher noch Politiker vorausgesehen. Ein Versäumnis, für das es jetzt Kritik hagelt.

    "Die Struktur ist komplex, sie ist überkomplex. Und wir müssen auf allen Ebenen daran arbeiten, dass dieses besser wird","

    sagt Staatssekretär Georg Schütte,

    ""in der Iter- Organisation gibt es erste personelle Veränderungen. Die müssen jetzt bald umgesetzt werden. Eine ebenso große Baustelle ist die europäische Agentur, die den europäischen Beitrag am Iter-Projekt koordiniert. Das ist "Fusion for Energy". Hier wollen wir deutliche Änderungen im Management. Ziel muss sein, dass wir die bestmögliche Technologie zu vertretbaren Preisen bekommen. Darauf müssen wir die Verfahren und Managementstrukturen ausrichten."

    Im Mai, als die Zahlen für die Kostensteigerungen auf dem Tisch liegen, droht der Eklat. Die Mitgliedsländer der EU weigern sich, Geld aus ihren nationalen Haushalten zuzuschießen. Schütte:

    "Wir suchen eine europäische Lösung. Das heißt, wir suchen das Geld im Budget der Europäischen Kommission und des Europäischen Haushalts."

    Im Juli, nach zähen Verhandlungen, kommt die Europäische Kommission mit einem Kompromiss: Ja, sie steht für Iter gerade, aber nicht mit 7,2, sondern nur mit 6,6 Milliarden Euro. Das restliche Geld soll aus anderen EU-Forschungsprogrammen abgezweigt werden, und aus nicht verwendeten Mitteln des Agrar-Haushalts. EU-interner Knatsch ist programmiert, Abgeordnete des Europaparlaments haben bereits Widerstand angekündigt. Dennoch: Am 28. Juli unterzeichnet die Kommission die Vereinbarung mit den sechs Partnern. Iter ist gerettet. Doch die Politik macht strikte Auflagen: Fortan werden externe Experten ein Auge auf Finanzen und Management haben. Die Iter-Macher müssen dem EU-Ministerrat jährliche Berichte über die Kostenentwicklung vorlegen. Ein neuer Generaldirektor wird eingesetzt, der Japaner Osamu Motojima. Und Projektleiter Norbert Holtkamp...

    "Wie lange mache ich den Job schon? Manche Leute sagen: zu lange!"

    ...wird schon bald seinen Stuhl räumen müssen. Sein Posten wird gestrichen, schließlich sollen die Management-Strukturen verschlankt werden. Und: Die Physiker werden mit 600 Millionen weniger auskommen müssen und dürfen nun sehen, an welchen Ecken sie noch sparen können. Außerdem wird der Zeitplan revidiert. Iter soll nun 2019 sein erstes Plasma zünden, ein Jahr später als geplant. Die Fusion – und damit die Erzeugung von Energie – soll sogar erst 2027 stattfinden. Die Kritiker jedenfalls fühlen sich bestätigt durch Kostenexplosion und Verzögerungen.

    "Es ist wissenschaftlich eine sehr große Herausforderung, Kernfusion zu betreiben."

    Heinz Smital, Atomexperte bei Greenpeace.

    "Das sind 100 Millionen Grad, die man beherrschen muss. Das ist sicherlich von wissenschaftlicher Seite her sehr spannend. Aber man soll nicht so tun, als würde man damit etwas für die Energieversorgung tun."

    Denn: Iter sei ja nur ein wissenschaftliches Experiment und nicht etwa schon ein funktionstüchtiger Prototyp für ein Kraftwerk.

    "Da wird nur versucht, ein Plasma zu erzeugen, das für einige 100 Sekunden bestand hat, und letztlich etwas mehr Energie herauszuholen, als man hinein gesteckt hat. Und man darf nicht vergessen, was für hochkomplexe Technik da drin ist. Für die Energieversorgung, glaube ich, sollte man sich das abschminken."

    Deshalb hätten die Kritiker das Projekt lieber gestoppt, um die Milliarden stattdessen in den Ausbau der regenerativen Energien zu stecken, etwa in riesige Solarkraftwerke in der Sahara. Das Geld, das nun zusätzlich in die Kernfusion fließt, wird woanders fehlen. Einschnitte sind auch bei der Weiterentwicklung der regenerativen Energien vorgesehen. Doch die Bundesregierung steht – bei aller Skepsis – nach wie vor zu Iter. Georg Schütte:

    "Ich glaube, dass wir es uns in der jetzigen Situation nicht leisten können, eine Option der Energieerzeugung, die in Zukunft immens wichtig werden kann, fahrlässig aufs Spiel zu setzen. Wir müssen mehrgleisig fahren. Wir müssen zu erneuerbaren Energien forschen, hier müssen wir viel tun. Wir müssen aber auch andere Optionen weiterverfolgen. Die Fusionsforschung ist eine dieser Optionen. Wir können es uns nicht leisten, uns hier international auszuklinken. Wenn wir den Klimawandel abschwächen wollen, und wenn wir verlässliche Energiequellen der Zukunft haben wollen, dann müssen wir auch Iter weiter verfolgen."

    Neil Calder fährt mit seinem Auto auf einer Schotterpiste – quer über jene riesige, planierte Fläche, auf der Iter entstehen soll. Mitten auf dem Gelände hält sein Wagen. Ein einsamer Fahnenmast, die Flagge flattert im Wind. Ziemlich zerzaust zeigt sie das sonnenblumengelbe Logo von Iter.

    "Diese Flagge steht hier seit fünf oder sechs Jahren. Sie markiert das Zentrum des Reaktors. Wir sind hier also nun genau an der Stelle, an der einmal der Reaktor stehen wird. Aber in wenigen Wochen werden wir die Flagge einholen müssen. Denn bald werden hier die Bagger anrücken und ein tiefes Loch ausheben."

    "Um diese riesige Halle herum werden andere große Gebäude stehen. Eines für die Stromversorgung, eines für das Vakuumsystem, eines für das Kühlsystem. Dort drüben wird es den Kontrollraum geben, weiter hinten wird das Bürogebäude stehen. Und all die Leute, die seit Jahren an dem Projekt arbeiten, sind ganz heiß darauf, endlich den Klang von Baggern, Bulldozern und Betonmischern zu hören."

    Seit Ende Juli ist klar: Iter wird gebaut, das Projekt ist aus der Finanznot gerettet. Aber: Die Physiker werden strikt mit dem Geld haushalten müssen. Denn eines hat ihnen die Politik mit auf den Weg gegeben: Es wird, zumindest vorerst, keinen Nachschlag geben. Es darf also nichts mehr schiefgehen, muss alles laufen wie geplant, sonst wird Iter scheitern. Doch daran will Neil Calder im Moment nicht denken. Er lässt seinen Blick lieber über die bewaldeten Hügel der Provence schweifen.

    "Es ist ein historischer Moment: Wir stehen hier auf dieser leeren Fläche, wo wir in 20 Jahren hoffentlich bewiesen haben werden, dass die Fusion als Energiequelle taugt. Und wenn das Ganze funktioniert, haben wir eine absolut saubere Energie, mit nahezu unbegrenzten Rohstoffen, die uns für Zehntausende von Jahren mit Energie versorgt. Ich bin mir sicher: Wir stehen hier an einer Stelle, an der etwas beginnt, was großen Einfluss haben wird auf die Zukunft der Menschheit!"