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Tex Rubinowitz schreibt über das Leben
Mischung aus Woody Allen und Joseph Beuys

Tex Rubinowitz war der Überraschungssieger des Bachmann-Wettbewerbs 2014. Eigentlich ist der Mann nämlich vor allem eins: ein vielbeschäftigter Cartoonist. Aus seinem Klagenfurter Siegertext ist nun ein Buch geworden.

Von Michaela Schmitz | 22.07.2015
    Der deutsche Schriftsteller Tex Rubinowitz, Gewinner des Ingeborg-Bachmann-Preises 2014, mit Blumenstrauß bei der Preisverleihung der 38. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt.
    Der deutsche Schriftsteller Tex Rubinowitz, Gewinner des Ingeborg-Bachmann-Preises 2014, mit Blumenstrauß bei der Preisverleihung der 38. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. (picture alliance / dpa / Gert Eggenberger)
    Wie schmeckt Liebe? Nach Brathuhn, findet Irma, die Litauerin. Und bittet den Mitbewohner ihrer 26-Quadratmeter-WG in Wien, eins für sie zu stehlen. Der einzige Lohn für seine Minnetrophäe: verkohlte Finger. Vielleicht versteht er Irmas Liebesbeweise ja nur nicht richtig zu deuten? Oder was will sie Tex damit sagen: wenn sie ihm Zucker in die Jackentasche streut, ihn auf Koreanisch begrüßt, an Batterien lutscht wie an sauren Drops oder ihm kleine Zettelchen auf den Küchentisch legt wie diese: "Gehen tun immer nur die anderen"? Sie verschwindet dann ebenso plötzlich, wie sie auftauchte. Mit ihrem kleinen Wanderrucksack, dem schwarzen Hemd, auf dessen Knopfleiste sie Ameisen, und der grünen Seifendose, auf die sie einen Hecht gemalt hat. Einfach weg, als hätte es sie nie gegeben. Oder hat er Irma vielleicht nur für sich erfunden? „Wir waren niemals hier" heißt der Refrain des Liedes, das Irma ihrem Freund Jahrzehnte später via Internet schickt. Als Freundschaftsanfrage über Facebook; der Sehnsuchtsmaschine im "Wartesaal für Idioten", wie Tex es nennt. Was kann man darauf antworten? „Anjong" vielleicht, was auf Koreanisch so viel heißt wie "Guten Tag" und laut Irma bedeutet "Ich liebe dich."
    "Ich wohnte eigentlich immer alleine, bis auf ein paar Wohngemeinschaften und diese drei Monate mit Irma. ich dachte, mich kann man niemandem zumuten, ich hatte keine große Meinung von mir (...). Ich hatte mir überlegt, ich warte nur auf meine Frau, auf DIE Frau, eine Mischung aus Kati Outinen und Doris Day, meine blonde, paradoxe Idealkombination damals, depressiver Optimismus und positive Verzweiflung oder so, so saß ich auf meiner Kemenate und wartete auf die Traumfrau und schaute im Fernsehen meine Lieblingsserie: Derrick. „Dekonstruktion in Reinkultur".
    Fade Küsse mit Kirschsaftgeschmack
    Und während der Sendepausen? Wie war das mit seiner ersten Freundin, der kuhäugigen Silke mit dem Liv-Ullmann-Gesicht aus dem „Voodoo", als Sechzehnjähriger in Lüneburg? Damals, als Tex nach dem Rausschmiss aus der Schule in einer Molkerei Joghurts abfüllt und am Feierabend in Trachtengeschäfte einbricht. Nichts als fade Küsse mit Kirschsaftgeschmack. Der erste Sex eine peinliche Schlappe. Woody Allen lässt grüßen. Oder mit der stämmigen weißblonden Kellnerin Lillemor, genannt Morra, im dänischen Tønder. Regelmäßiges Ziel seiner freien Wochenenden vom Militär, wo er beim Marinefliegergeschwader als Bremsschirmpacker ausgebildet wird.
    Nach dem Wehrdienst ist auch mit Morra Schluss. Oder mit Ritva, der Finnin, die er nach Irmas Verschwinden im Alt-Wien kennenlernt. Gemeinsam reisen sie mit der Transsib von Moskau nach China: mit nichts als einem kleinen Plattenspieler, ein paar ihrer Lieblingsscheiben und einer großen Schachtel Kondome der finnischen Marke „Hauki". Peking ist Endstation – der Reise und ihrer Affäre. Ritva fährt mit einem Engländer in der Transsib zurück. Tex lernt auf der Fähre von Shanghai nach Hongkong Polythene Pat kennen, eine Amerikanerin ohne Hals mit roten Ohren, die immer auf Plastiktüten herumkaut. Sie schließt sich in Honkong einer Gruppe chinesischer Lesben an. Und verschwindet aus Tex Leben wie all die anderen Frauen zuvor.
    "Das unglückliche, schizophrene Bewusstsein führt also dazu, dass wir nie zur Ruhe kommen können. Und wenn Hildegard über von Oertzen hinweg ist, kommt ein neuer von Oetzen, (...). Und so ist das bei Irma und Silke und Eva, das sind ja nur Platzanweiserinnen der Sehnsucht, (...) es läuft darauf hinaus, dass wir enttäuscht werden wollen. Wenn man das weiß, kann man es sogar herbeiführen, man kann instinktiv versuchen, das Falsche zu machen."
    Tex Rubinowitz heißt eigentlich Dirk Wesenberg und ist 1961 in Hannover geboren. Nach seinem Schulabbruch war Rubinowitz als Molkereiarbeiter und Aktenträger in Lüneburg tätig. Beim anschließenden Wehrdienst wurde er als Bremsschirmpacker ausgebildet. 1984 zog er nach Wien und begann ein Kunststudium, das er nach einer Woche abbrach. Heute ist er von Beruf Cartoonist; unter anderem für den "Falter", den "Spiegel" und die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung". Nebenbei tritt er als Musiker mit seiner Band "Mäuse" auf und betreibt ein eigenes Label. Schreibend trat Rubinowitz vornehmlich in Internetforen und als Reisejournalist in Erscheinung, bevor er mit seinem Siegertext "Wir waren niemals hier" in Klagenfurt gewann. Aus diesem Text ist jetzt das neue Buch "Irma" entstanden.
    Handelsreisender in Sachen verkrüppelter Seelen

    Aber was ist dann Leben? Wenn Liebe nach gestohlenem Brathuhn schmeckt und nur verkohlte Finger hinterlässt. Und Sex als tragikomischer Slapstick dem Aufeinanderklatschen von zwei sterbenden Karpfen gleicht. Vielleicht eine nicht gespielte Rolle in einem nie realisierten Film? Sind russische Ulan-Ude-Kekse tatsächlich der einzige Weg zur Erleuchtung? Tex positive Bilanz sieht jedenfalls katastrophal aus: vom Schulabbrecher zum Joghurtabfüller, Einbrecher, Ballonschirmpacker und verunglückten Kunststudenten. Einzig seine Erfolge als Handelsreisender in Sachen verkrüppelter Seelen und miserabler Liebhaber mit dem Hang zu neurotischen Frauenbekanntschaften können sich sehen lassen. Aber vielleicht erklärt sich ja am Ende alles ganz einfach aus dem Anfang:
    "Erster Kuss, erste Eins, erste Fünf, erste Uhr, erste Wespe in der Coladose, erstes chinesisches Essen, auch die erste Platte gehört dazu, das sind biographische Eckdaten, auf denen das Leben oder das, was wir für Leben halten, gebaut wird, ein Klebstoff, der den ganzen trüben Rest zusammenhält, mal fester, mal weniger fest, mal mit Zement, mal nur mit Spucke. Der Versuch, am Ende ein Leben zu definieren anhand dieses Fugenkitts, muss naturgemäß scheitern."
    Das Leben als endloser Systemfehler
    Aber was soll man denn sonst sagen, wenn einen jemand fragt, was man denn die letzten dreißig Jahre so gemacht hat? Vielleicht Frauenporträts zeichnen. Und sich seine eigene Biografie zusammenlügen. Wie Tex. Im klaren Bewusstsein, dass Leben so oder so ein sich endlos reproduzierender Systemfehler ist.
    Tex Rubinowitz sieht sein Buch "Irma" nicht als Roman und nicht als Erzählung. "Irma" ist wohl eher eine Mischung aus einem Woody-Allen-Film und einer sozialen Plastik von Josef Beuys, wie der Autor seine Kunst gerne sähe: genauso komisch, geschwätzig, philosophisch, abschweifend, intelligent, albern und tiefgründig. Der Ich-Erzähler trägt nicht zufällig den Namen des Autors. „Irma" ist eine wenig verhüllte autobiografische Fiktion von tragischer Komik. Denn was in Tex Rubinowitz "Irma" so leicht klingt, ist naturgemäß das Schwerste überhaupt: Wenn Identität Lüge ist und Leben Scheitern heißt, hilft es gelegentlich, über die eigene Lebensgeschichte als selbst inszeniertes Missgeschick zu lachen.
    Tex Rubinowitz: "Irma"
    Rowohlt Verlag 2015.
    240 Seiten, 18,95 Euro.