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Texte eines schweigsamen Mönches

Die Texte des Gedichtbandes "Beim Erwachen aus dem Schlaf" stellen die aktuelle Entwicklung des Koreaners Ko Un vor. Stille und reflexive Texte sind in der Überzahl. In ihnen atmet der Geist des Zen-Buddhismus, die Überzeugung, dass sich alles ständig verändert.

Von Katharina Borchardt | 19.09.2007
    "An einem grundlos traurigen Tag
    breite ich eine Landkarte aus."

    Schreibt der südkoreanische Lyriker Ko Un.

    "Orte, die ich aufsuchen will:
    Hyesan,
    Jaesong, Ganggye,
    Chosan,
    Jaeryeong in Hwanghe-do
    ach, der Seokwang-Tempel in Anbyeon,
    und die Insel Odong bei Yeosu."

    Es sind Orte in Nordkorea, und Ko Un ist weltweit dafür bekannt, der Sehnsucht der Südkoreaner nach dem Norden bis heute in seinen Gedichten Ausdruck zu verleihen. Die Teilung des Landes hat er selbst miterlebt. Er wurde 1933 im heutigen Südkorea geboren. Als 1950 der Korea-Krieg ausbrach, zog die nordkoreanische Volksarmee den damals 17-Jährigen vorübergehend zum Arbeitsdienst ein. Danach kehrte er zu seinen Eltern zurück:

    "Den Korea-Krieg habe ich als Jugendlicher erlebt. Auch in unserem Dorf haben Nord- und Südkoreaner einander umgebracht. Diese schrecklichen Erlebnisse haben mich so verwirrt, dass ich mehrmals von zu Hause weggelaufen bin. Mein Vater hat mich dann immer wieder nach Hause gebracht. Eines Tages aber traf ich auf einen Mönch, der auf Wanderschaft war. Diesem Mönch bin ich einfach gefolgt. Nach einiger Zeit merkte ich, wie ich innerlich wieder gesund wurde."

    Durch die unterschiedlichen politischen Systeme hat sich auch die koreanische Sprache in beiden Landesteilen unterschiedlich entwickelt. Im Norden wurden viele Fremd- und Lehnwörter durch koreanische Neuschöpfungen ersetzt, die man im Süden nicht kennt. Dort hingegen wurden viele Wörter aus dem Englischen übernommen. Ko Un selbst vermeidet dieses Vokabular. Er weiß aber, dass auch diese Begriffe inzwischen ein Teil der koreanischen Sprache sind. Will man also die koreanische Wiedervereinigung, müsse diese auch auf dem Gebiet der Sprache verwirklicht werden. Denn nur so könne man einander verstehen lernen, sagt Ko Un:

    "Mit der Teilung des Landes ist auch unsere Sprache geteilt worden. Deshalb haben wir vor ein paar Jahren eine Arbeitsgruppe gegründet. Diese Gruppe erarbeitet ein Lexikon, das beide koreanische Sprachen wieder zusammenführt. Die Initiative kam von unserer Seite, und wir haben die Nordkoreaner überredet, sich auch daran zu beteiligen. Ich bin der Vorsitzende des Ausschusses, und ich hoffe sehr, dass diese Arbeit die Grundlage für die zukünftige Wiedervereinigung sein wird."

    So sachlich das Wörterbuch, so emotional die Gedichte. In seinem Frühlingsgedicht "Die Kunde der Blumen" träumt Ko Un davon, wie Azaleen zuerst im Süden und schließlich auch im Norden blühen:

    "Bald werden die Azaleen von der Insel Cheju
    ganz im Süden
    in Jeolla-namdo
    und der Provinz Kyeongsang-namdo, blühen.
    Ein paar Tage später in der Landesmitte,
    am Ufer des Han-Flusses,
    in der Stadt Chuncheon am Soyang-Fluss.
    Einen Monat danach
    im Dorf Hyesan
    am Oberlauf des Yalu in Nordkorea."

    Für die ältere Autorengeneration in Südkorea ist die Wiedervereinigung mit dem Norden ein zentrales politisches Anliegen, das sie seit Jahrzehnten immer wieder literarisch umsetzt. Deswegen klingt inzwischen manch ein Gedicht betulich und in seiner Bildsprache - zum Beispiel im Fall der Azaleen - abgedroschen.

    Wahrscheinlich wird der 74-jährige Dichter die Wiedervereinigung der beiden koreanischen Staaten nicht mehr erleben zumindest nicht mehr in diesem Leben. Ko Un aber denkt in ganz anderen Kategorien: Der Lebenslauf auf seiner Homepage umfasst nicht nur dieses, sondern auch seine vorangegangenen Leben. Seine frühesten Erinnerungen gehen ins Jahr 1125 vor Christus zurück, als er als Eselin geboren wurde. Menschliche Gestalt nahm er erst gut tausend Jahre später an. Seither wurde er als Schamane, als Wirt, als Schäfer, als Mönch, als Bauer und schließlich als Dichter wiedergeboren - zuletzt vor allem auf der koreanischen Halbinsel. Seine Liebe zur koreanischen Tradition ist tief:

    "Seit alten Zeiten
    waren wir ein Volk der Sonne:
    Goguryeo, Baekje, Silla, Goryeo, Joseon -
    alle Dynastien dienten der Sonne,
    dem heiligen Berg des Sonnenaufgangs.
    Weil wir die goldenen Sonnenstrahlen verehrten,
    legten wir weiße Kleider an.
    Immer trug
    das ganze Volk
    nur weiße Kleider."

    Es trug weiße Kleider, als es sich 1919 gegen die japanischen Besatzer erhob und als es 1945 den Abzug der Japaner feierte, schreibt Ko Un. Auch die Flüchtlinge im Korea-Krieg trugen weiße Kleider beim Rückzug.
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    "Doch in den 50er Jahren
    begannen die Überlebenden des Krieges
    amerikanische Ware zu tragen."

    Ko Uns Gedichte sind durchdrungen von koreanischer Geschichte. Er versteht sich als Dichter und als Geschichtsschreiber zugleich. Vor über 20 Jahren begann er ein Projekt namens "Zehntausend Leben". Sein Ziel ist es, zehntausend Gedichte über zehntausend Menschen zu schreiben: je eins pro Person. Damit fängt er koreanische Geschichte in zehntausend Facetten ein. Und er ist bekannt für seinen Fleiß: Im vergangenen Jahr erschienen Band 21, 22 und 23 der Sammlung.

    Auch junge Südkoreaner lässt es natürlich nicht kalt, wenn die örtlichen Fernsehsender von Zeit zu Zeit übertragen, wie sich durch die Grenze getrennte koreanische Familien alt geworden nach über 50 Jahren zum ersten Mal wiedersehen. Ko Un findet aber, dass sich die jungen Autoren zu wenig mit der Geschichte auseinandersetzen:

    "In den letzten zehn Jahren haben sich jüngere Autoren vor allem mit dem Inneren des Menschen beschäftigt. Ihre Themen sind sehr subjektiv. Wir Älteren schreiben mehr über Themen, die das koreanische Volk insgesamt betreffen, und wir reflektieren politische Zusammenhänge. Gerne würden wir die jüngere Generation in unsere Projekte einbeziehen. Damit könnten wir den jungen Leuten einen Anstoß geben, sich ebenfalls mit der koreanischen Geschichte auseinanderzusetzen."

    Und doch sind die neueren Gedichte Ko Uns, die der Band "Beim Erwachen aus dem Schlaf" vorstellt, weniger politisch als viele seiner älteren, ins Deutsche übertragenen Texte. In diesen ging es oft kräftig gegen die einstigen japanischen Besatzer, gegen die Großmächte, die auf koreanischem Boden den Korea-Krieg ausfochten, gegen die südkoreanische Militärdiktatur und gegen die sich ausbreitende amerikanische Kultur. Die nun frisch übersetzten Gedichte aus den 90er Jahren sind ruhiger. Manche klingen altbacken und überholt. wenn sich Ko Un dick auftragend als Dichter stilisiert oder wenn er seine Heimat als "sagenumwobene östliche Welt" verkitscht. Manche aber klingen auch ganz klar und transparent, wie zum Beispiel das Gedicht über die "Pagode aus Wasserachat". Die Anklänge an eine zen-buddhistische Bilderwelt kommen nicht von ungefähr: Ko Un war als junger Mann selbst zehn Jahre lang ein zen-buddhistischer Wandermönch, bevor er Dichter wurde. Im "Traumgedicht von heute Nacht" schreibt er:

    "Seht den Vogel,
    der auf dem Wipfel des Baumes sitzt.
    Seht den Vogel,
    der vom Wipfel auffliegt.

    Seht die Leere des Wipfels,
    wenn der Vogel entfliegt.
    Bleibende Leere,
    seht nur den trüben Himmel."

    "Die Lehre, die ich als Mönch erfahren habe, war sehr hart. Etwa zehn Jahre lang habe ich versucht, die Sprache zu verwerfen: das Schreiben und auch das Sprechen. Doch auch innerlich soll man sich nicht an Gefühle oder an Wissen klammern, sondern alles loslassen. Nach etwa zehn Jahren las ich dann in einem Buch, dass es zwei verschiedene Arten von Wahrheit gibt: Die eine Wahrheit beruht auf der Sprache, die andere auf der Nicht-Sprache. Die Sprache, die Wahrheit ausdrücken will, verfolgt keine Ziele und hat keine Mission, sie besteht nur darin, die Wahrheit konzentriert zu erfassen. Wenn man auf diese Weise Gedichte schreibt, kommt man dem, was man als schweigsamer Mönch liebt, dann schließlich wieder sehr nah."

    Gerne hält man sich in "Beim Erwachen aus dem Schlaf" deshalb an die klareren Gedichte, die leicht und durchlässig klingen, so luftig und frisch und doch wohlgeordnet wie auch Ko Uns Handschrift selbst: Die beiden Übersetzerinnen Kim Miy-He und Sylvia Bräsel hatten die schöne Idee, der Lyrikanthologie auch zwei koreanische Handschriften von Ko Un beizugeben.


    Ko Un: Beim Erwachen aus dem Schlaf
    Gedichte. Aus dem Koreanischen von Kim Miy-He und Sylvia Bräsel. Mit einem Vorwort des Autors und einem Nachwort von Sylvia Bräsel
    Wallstein-Verlag, 100 Seiten, 16 Euro