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Thalia Theater
Fünf Minuten mit einem Schicksal

Minderjährige "unbegleitete Jugendliche" aus Somalia, Afghanistan, Pakistan und dem Benin erzählen in einem Projekt des Hamburger Thalia Theaters ihre Geschichte. "an,komen" – Unbegleitet in Hamburg" heißt die begehbare Installation von Regisseur Gernot Grünewald, die nun Uraufführung hatte.

Von Michael Laages | 25.10.2015
    Die Behörden nennen sie "umF" − "unbegleitete minderjährige Flüchtlinge" in einer Unterkunft in München 2011
    Die Behörden nennen sie "umF" − "unbegleitete minderjährige Flüchtlinge" in einer Unterkunft in München 2011 (dpa / picture alliance / Peter Kneffel)
    Risiken und Nebenwirkungen sind allgegenwärtig, die Begegnung mit und das Scheitern an ihnen ist kaum zu vermeiden – wie wird aus Theater über Geflüchtete Theater mit Geflüchteten? Und wie können gerade wir, die tendenziell Wohlmeinenden, das selbstverständliche Mit-Fühlen noch übers (notgedrungen immer bloß virtuelle) Mit-Leiden hinaus verstärken und "objektivieren" durch "Kunst" – weil wir eben im Theater sind und nicht bei einer willkommenskulturellen Solidaritätsveranstaltung!
    Gernot Grünwalds Installation mit "unbegleiteten Flüchtlingen", also Jugendlichen, die es ohne Eltern oder Verwandte aus Somalia oder Afghanistan bis nach Hamburg geschafft haben, steckt voller Hinweise auf den Konflikt; acht junge Geflüchtete sind hier allein mit uns, dem Publikum; und auch nicht etwa mit uns als (tendenziell eher einschüchternder) Masse, sondern immer nur (und auch für fünf Minuten) mit je einem Gast. Jeder und jede von uns betritt eine von zwölf Zeltlager-Zellen und trifft "seinen" Geschichtenerzähler, im Uhrzeigersinn durchwandern wir dieses Dutzend an Begegnungen.
    Distanz schaffende Tricks
    Dieses Maximum an Intimität wird gekontert durch einen ganzen Handwerkskasten voller distanzschaffender Tricks. Schon Ali, mein Gastgeber zu Beginn, kocht zwar Tee und bereitet Kuchen vor (den es dann am Schluss zu probieren gibt) – von sich selber erzählt er aber dem Handy; der Anruf kommt von der Zuschauerin ein paar Zelt-Zimmer weiter rechts.
    "Ich bin geboren in einem kleinen Dorf in Afghanistan ... da gab’s keine Straßen, kein Krankenhaus, keine Schule ... ich konnte nicht leben in Afghanistan – darum bin ich gekommen hier!"
    Gleich danach (und dann immer wieder) kommen die Kopfhörer zum Einsatz – zuerst beim Jungen mit den Box-Handschuhen und dem Sandsack (sogar dem Gast hängt er einen Schlagschutz um und probiert einen Angriff!) – er zeigt die Narben, die die Taliban geschlagen haben; und die Geschichte dazu, vielstimmig, setzt sich fest im Ohr.
    "Ich heiße Sayed, ich komme aus Pakistan, ich bin 17 Jahre alt ...
    "Es ist so, dass er von den Taliban festgenommen war, und einen Monat lang misshandelt worden ist ..."
    Nächstes Zelt – hier hipphoppt sich ein Afrikaner den Frust aus dem Körper, den ihm die Frau in der S-Bahn eingeimpft hat, die ihn selbst dann noch zur Hölle (besser, oder schlimmer: nach Hause) schicken wollte, als er ihr seinen Sitzplatz anbot. Die Story hat er auf Zetteln erzählt; zum Schluss fragt er:
    "Warum gibt es Rassismus?"
    Wir, die Zuschauer-Mannschaft, sitzen unseren Gastgebern gegenüber
    Immer wieder Text-Tafeln und lose Blätter, immer wieder Fotos zu den Geschichten im Kopf; mal beschreibt einer die alltäglichen Dinge, die die Flucht in der Nussschale übers Mittelmeer begleiteten – per Video-Kamera zeigt sie ihm ein anderer Gast aus dem Raum ein paar Zelte weiter vorn. Einer war schon ein gutbeschäftigter Hochzeitsfotograf daheim in Afghanistan; im Kopfhörer erzählt er über seine Wege durch Hamburg. Was ihm fehlt, ist eine Kamera – aber er behilft sich: und macht das Foto vom Gast mit dem Handy.
    "Darf ich ein Foto von Ihnen machen? Na klar! Bitte ..."
    Auch dieses Bild wird zur Erinnerung, wenn der Parcours durchschritten ist. In diesem letzten Moment heben sich die Zelt- und Vorhang-Wände, und wir, die Zuschauer-Mannschaft, sitzen unseren Gastgebern gegenüber. Sie spielen eine Art Basketball ...
    Natürlich war der Schrecken, war das Unsagbare präsent an den Stationen zuvor – aber "gefühlig" war nichts, nirgends begann sich so etwas wie "Elendskitsch" breit zu machen. Natürlich sind wir jungen Menschen begegnet, deren Erlebnishorizont wir nie ermessen können – aber im Zelt mit ihnen war (mit den Mitteln der Kunst!) das Alltägliche möglich: annähernd gleich zu werden. Wie auf der Straße, wie in der S-Bahn …
    Drum herum um die Begegnungen raunten übrigens die "Fachleute", vom Flüchtlingsbetreuer bis zum Hassprediger von der AfD, der sich die Geflüchteten nur als Gefahr vorstellen kann, bestenfalls als Kostenfaktor … Wenn's Karl Valentins "Theaterzwang" gäbe in Hamburg, würde (vielleicht!) sogar ein derart schlimmer Finger hier was lernen, Auge in Auge mit denen, die er hasst.