Ein langer ovaler Konferenztisch mit acht Stühlen und einer futuristischen Deckenlampe, ein grauer Teppichboden und ein Stapel eingepackter Erfrischungsgetränke in einer Ecke: Die Bühne in Annie Bakers neuem Stück "The Antipodes" ist ein Konferenzraum, rechts und links davon sitzt das Publikum. Für fünf Männer und eine Frau, alle um die 30 Jahre alt, ist hier ein Berufstraum in Erfüllung gegangen: Sie sind Teil eines gut bezahlten, kreativen Thinktanks – einer Ideenschmiede - für eine TV-Serie oder ein Videospiel, so genau wird das nie erklärt. Sie müssen nichts anderes machen, als permanent Geschichten erzählen und daraus einen neuen Stoff entwickeln. Denn Geschichten konstituieren die Gesellschaft. Oder wie Firmenguru Sandie es formuliert: "Wir können mit Geschichten die Welt verändern und dabei tonnenweise Geld verdienen." Und die guten Geschichten sind seiner Meinung nach persönlich und intim.
Um einen "heiligen Raum" der Offenheit und des Vertrauens zu kreieren, darf es keine Handys und keine eigenen Aufzeichnungen geben: Das sind die Regeln in diesem Setting, das Prozedere ist jeden Tag das Gleiche: Sandie, in Turnschuhen, Baseballkappe und mit einer Thermosflasche, die er immer mit größter Vorsicht auf den Tisch stellt, begrüßt seine Mitarbeiter und wartet dann, wer mit einer Geschichte beginnen will. Manchmal fragt er sie auch direkt, nach ihrer besten Sexgeschichte, dem gefährlichsten Moment ihres Lebens oder nach einer besonders enttäuschenden Lebenserfahrung. Assistent Brian tippt alles Gesagte in seinen Laptop und Assistentin Sarah gibt ein kurzes Briefing und nimmt die Bestellungen fürs Mittagessen auf. Wenn sie ihr Kostüm wechselt, ist ein neuer Tag angebrochen.
Geschichten für "das nächste ganz große Ding"
Zwei der sechs Teilnehmer sind schon zum zweiten Mal dabei und scheinen das Spiel zu kennen. Sie erzählen frei von der Leber weg von Geschlechtskrankheiten und kriminellen Episoden aus ihrem Leben. Die einzige Frau am Tisch kommt aus Island, strickt gerne und berichtet, wie wunderbar ihre erste sexuelle Begegnung mit einem völlig Fremden war. Während des ganzen Abends erfährt der Zuschauer nicht, warum genau diese Menschen ausgewählt wurden und was für Geschichten die Firma eigentlich genau sucht, für "das nächste ganz große Ding", erklärt Sandy vage.
Er scheint zu der Generation von neuen Unternehmern zu gehören, hinter deren supercooler und extrem entspannter Fassade sich ein autoritärer Machtmensch versteckt, der es gewohnt ist, dass die Menschen tun, was er sagt. Und vor allem: Geld spielt keine Rolle. "Solange ihr mich nicht wirklich ärgert, bin ich ein guter Boss", sagt er gleich am Anfang. Als einer der Teilnehmer Probleme damit hat, seine persönlichen Geschichten in den Prozess miteinzubringen, bestellt Sandy ihn in sein Büro. Danach sieht man ihn nicht mehr.
Doch die Gruppe kommt nicht voran. Sandie lässt sich immer öfter von Sarah entschuldigen: Eine Überschwemmung hat sein Ferienhaus zerstört, Angehörige sterben plötzlich und bei seiner Frau wird Krebs diagnostiziert. Die Welt da draußen scheint ihrem Untergang entgegen zu gehen.
Wie der zähe innere Prozess einer Autorin, die eine Schreibblockade hat
"The Antipodes" – "Die Antipoden" – ist sicher Annie Bakers abstraktestes Stück. Im Programmheft wird es als ein Abend über Leute beschrieben, die Geschichten erzählen übers Geschichtenerzählen. Ironischerweise hat das Stück selber keine Geschichte und das ist auch sein großes Problem: In weiten Teilen wirkt es ausgedacht und langweilig. Das zweistündige Drama ohne Pause ist wie der zähe innere Prozess einer Autorin, die eine Schreibblockade hat. In einem Interview spricht Annie Baker von einer immensen Hoffnungslosigkeit, die sie nach der vergangenen Wahl in den USA erfasst hat, einen tiefen Zweifel darüber, ob Theater angesichts des Wahlsieges einer anti-intellektuellen, anti-künstlerischen Administration überhaupt noch Teil einer kulturellen gesellschaftlichen Debatte sein kann. "The Antipodes" spiegelt diesen Zweifel wider.
Sandie berichtet zwischendurch einmal von der Theorie, dass wenn alle Geschichten erzählt wurden, es 300.000 Jahre dauern soll, bis es wieder neue gibt. Selbst für ein postdramatisches Theater sind das keine guten Aussichten.