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The Bolano Project in Leipzig
Performative Absichtserklärung voller Eklektizismen

Von Eberhard Spreng | 06.11.2015
    Welche Farbe hat ein Roman, wie ist seine grundlegende Stimmung, wie sein Geruch? Die Performer Laia Fabre und Thomas Kasebacher versuchen, genau darauf eine Antwort zu finden. Zwar sind beim Eintritt in den Spielraum in der Residenz des Schauspielhauses Leipzig einige Zeilen vom Anfang des fünfteiligen Romans "2666" zu hören. Sehr schnell wird aber deutlich, dass es den Performern nicht darum geht, die verschlungenen, lose ineinander verschränkten Geschichten aus dem figurenreichen und mit weit über 1000 Seiten gewaltigen Roman des Chilenen Roberto Bolaño zu erzählen, sondern so etwas wie die energetische Essenz des Gesamtwerkes zu fassen zu bekommen.
    Essenzen, die wohl als Grundelemente für die Parfümherstellung dienen, machen als Geruchsproben die Runde beim auf Podesten im Raum verteilten Publikum: Die Wüste, die Gewalt, das Animalische sollen sie der Nase suggerieren und somit dem evolutionsgeschichtlich ältesten unserer Sinnesorgane, das unmittelbar mit dem Stammhirn verbunden ist. Man assoziiert Farben, nimmt Spuren von verbranntem Holz war, oder Duftstoffe, mit denen Tiere ihr Terrain markieren. Ein sinnlicher Direktzugang ohne den Umweg über die Erzählung. Von den rund 60 Tieren, die im Roman benannt sind, mal anekdotisch als Teil der Geschichte, mal in Form von Allegorien für Seelenzustände oder Metaphern für menschliche Verhaltensweisen, sind 15 in nüchternem Realismus auf Leinwände gemalt: Ein Pferdeporträt, ein Fisch, eine Schlange, ein Wildschwein und weitere. Gegenüber des Spielraums im Leipziger Stadtteil Plagwitz hat der Maler Neo Rauch sein Atelier, beeilen sich die Performer zu erklären.
    In ihrem Work-in-Progress sollen im Verlauf des kommenden Jahres Künstler aus verschiedenen Disziplinen die Performer begleiten: Tänzer, Maler, Theoretiker und Wissenschaftler. Sie sollen für jeden der fünf Romane des Gesamtwerkes assoziative, ästhetische und diskursive Zugänge schaffen. Mit Bolaños Jahrhundertroman, in dessen ekstatischer Maßlosigkeit sich die helle Welt der Kunst und Wissenschaft mit roher Gewalt mischt, Leben ohne den Tod nicht zu haben ist, gelingt dem Literaten und seiner Sprache eine Weltsicht, auf deren Niveau andere Künste in ihrem Versuch die Jetztzeit zu fassen, erst noch kommen müssen. So darf man Thomas Kasebacher in seinen einführenden Worten ans Publikum verstehen.
    Was das Spannenste war, ist diese Idee, dass das Buch eigentlich sehr "jetzt" ist, Bolaño hat es geschafft, zu beschreiben, wie wir heute leben oder Entscheidungen treffen.
    The Bolaño-Project ist bei seiner Uraufführung in Leipzig eine Projekt-Skizze und performative Absichtserklärung voller Eklektizismen. Eine Sammlung Kakteen steht auf einem Ateliertisch. Sie illustrieren die Flora rund um Santa Teresa, das Roberto Bolaño zum Fluchtpunkt in den Lebenslinien seiner Protagonisten macht. Die Stadt steht, wie das reale Vorbild Ciudad Juárez für einen Ort absoluter Gewalt, für eine nicht abreißenden Mordserie an jungen Frauen, mittellosen Wanderarbeiterinnen. Ein hyperrealistisches Bild für die Grauen der Globalisierung und Metapher für das Böse an sich, das eine Wahrsagerin einen "Sarg voller Geschrei" nennt. Baudelaires Formel "Eine Oase des Grauens in einer Wüste der Langeweile" hatte Bolaño seinem Romanzyklus vorangestellt. In Leipzig steht er als Schriftzug über der Eingangstür. Die bereits erwähnte Befassung mit dem Tier setzen die Performer in Form von Yoga-Übungen fort, die eine schwarz-weiße Filmprojektion aus einem indischen Trainingszentrum begleitet. Die Kobra etwa, eine der klassischen Figuren dieser Körperarbeit. Die Annäherung des Menschen an die Welt der Tiere ist gemeint, eine der möglichen Transformationen, die ein Thema in Bolaños Literatur sind. Die Hölle von Santa Teresa hingegen ist bislang nichts weiter als ein gewaltiges Dröhnen mit Bühnenebel und Stroboskoplicht in einem angrenzenden Küchenraum. Dann wird Mescal gereicht und Tortillas und am Ende singen Thomas Kasebacher und Laia Fabre "Say Goodbuy" des Singer-Songwrighter Beck. Das ist die Not der Performer: Wenn sie ohne Umschweife in die Grundfarben und Energien eines Werkes eintauchen wollen und dafür dessen breite, narrative Basis tilgen, dann zerfällt ihnen der Stoff zu disparaten Partikeln. Und diese wirken wiederum harmlos im Vergleich zu der verstörenden, beängstigenden Literatur des früh verstorbenen Chilenen. Für das Endergebnis stellen sie sich so etwas wie eine performative Installation über mehrere Räume vor. Das wäre dann kein Gesamtkunstwerk, sondern so etwa wie ein Bolaño-Themenpark.