Donnerstag, 18. April 2024

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"The Prisoner" von Peter Brook in Paris
Schwergewichtiges Märchen um Schuld und Sühne

Kurz vor seinem 93. Geburtstag hat der britische Theaterregisseur Peter Brook an seinem Theater in Paris ein neues Stück herausgebracht. "The Prisoner" handelt von einem Mann, der allein vor einem Gefängnis sitzt, und den Fragen, die diese Situation auslöst: Ist er kriminell? Warum sitzt er hier?

Von Eberhard Spreng | 07.03.2018
    Peter Brook während einer Theaterprobe 2016
    Peter Brook während einer Theaterprobe 2016 (imago stock&people)
    Ein kleines Welttheaterensemble hat Peter Brook um sich versammelt: Akteure aus der schwarzen Diaspora und aus Mexiko, Indien und Sri Lanka. Und er umgibt sie, wie wir es seit Jahrzehnten von seiner Arbeit kennen, auf der freien Spielfläche seines Théâtre des Bouffes du Nord mit nichts, was entfernt an ein Bühnenbild erinnert. Ein paar Stücke Treibholz, eine Baumwurzel, eine kleine Bank, ein paar helle Tücher. So spielt denn "The Prisoner", das Peter Brook zusammen mit seiner langjährigen Mitarbeiterin Marie-Hélène Estienne geschrieben hat, in einem globalen Irgendwo und Irgendwann, das sich keiner Kultur zuordnen lässt, allenfalls einer Region und einer Zeit, in der der Sufismus noch einen Einfluss auf das Denken hatte. Eine Reise des Theatermeisters in das Afghanistan vor der Sowjetischen Invasion 1979 und eine Begegnung mit einem Sufi dort waren Auslöser für ein Stück, in dem Brook mit einer kleinen Rahmenhandlung an ein afghanisches Schlüsselerlebnis erinnert.
    Straftäter soll vor Gefängnis ausharren
    Der afghanische Sufi hatte Brook dereinst von einer Empfehlung erzählt, die er einem dortigen Richter gegeben hatte. Der solle einen jungen Straftäter nicht ins Gefängnis sperren, sondern solange vor einem Gefängnis Platz nehmen lassen, bis er die Notwendigkeit seiner Strafe eingesehen habe. In völliger Freiwilligkeit solle er dort statt der physischen Freiheitsberaubung eine spirituelle Bewusstseinserweiterung erfahren. Und die werde ihm selbst dann schon sagen, wann die Strafe vorbei sei: In der Vollendung eines Prozesses, der ihm eine neue Erfahrung einer erweiterten Freiheit beschere.
    So hockt denn der in Sri Lanka geborene Hiran Abeysekera in der Figur des Mavuso zwischen ein paar Holzstücken in der Mitte der kahlen Bühne und blickt in Richtung auf die Zuschauer, da wo das imaginäre Gefängnis zu vermuten ist. Er ist ein Einsiedler in Anschauung eines Meditationsgegenstandes, der für andere ganz real ist. Dass sich dort wirklich Häftlinge, Wärter und Gefängnisleitung über den komischen Heiligen wundern und dass dies im Gefängnis Unruhe stiftet, erfährt er bei einem nächtlichen Besuch des Gefängnisdirektors. Auch ein Vertreter aus dem nahe gelegenen Dorf beklagt sich über den Aufenthalt des ungebetenen Penners, der von einfachster Nahrung lebt und mit einer Ratte eine kurze Freundschaft erlebt: In einer kleinen spielerischen Miniatur verwandelt der Protagonist mit seiner Hand den Zipfel seines Tuches in das putzige Tier, das ihn plötzlich beißt und das er dann erbost mit dem wuchtigen Wurzelholz erschlägt.
    Stoff für eine antike Tragödie
    "I am here to repair" sagt Mavuso immer wieder und dies ist durchaus auch im religiösen Sinne der Buße zu verstehen. Seine Schuld ist von archaischem Ausmaß und könnte einer antiken Tragödie Stoff liefern: Er hat den Vater getötet, aus Eifersucht, denn der liebte Mavusos Schwester: Inzest des Vaters, Inzest des Sohnes. Die indische Schauspielerin Kalieaswari Srinivasan spielt Nadia, die ihrerseits für ihre im Inzest gezeugte Tochter eine Perspektive sucht - abseits des Grauens.
    Wie immer inszeniert Brook das schwergewichtige Märchen um Schuld und Sühne ganz leicht dahin, mit eben nur skizzierten Bebilderungen der Parabel. Der legendäre Regisseur und Meister des "leeren Raums" lässt den siennaroten Wandanstrich seines Théâtre des Bouffes du Nord aufleuchten oder den dunklen Boden in nächtlichen Lichtstimmungen zu einer unheimlichen Tiefe werden. Am Ende des kurzen Abends ist Mavusos Welt ein andere geworden: Der Hass auf den Vater ist verflogen, seine Gefangenschaft in Obsessionen vorbei. Das allerdings behaupten Stück und Regie eher, als dass sie dies als seelischen Läuterungsprozess entwickelten.
    Haftstrafen verändern das Bewusstsein nicht
    Peter Brook behandelt mit seinem Theatermärchen, wenn auch sehr vermittelt, ein eminent gegenwärtiges Problem nicht nur der französischen Gesellschaft: Die Gefängnisse scheitern weitgehend bei der ihnen zugedachten Aufgabe, durch Freiheitsentzug Bewusstseinsveränderungen herbeizuführen. Und sie entlassen ihre Häftlinge nicht als freie Menschen in die Freiheit.
    Brooks Gefängnis ist eine Verinnerlichung. Die physischen Mauern als mentale Mauern zu akzeptieren und so zu überwinden, ist sein esoterisch geschultes Anliegen. Ganz vergnügt verfolgte der 92-Jährige das Bühnengeschehen aus der dritten Reihe. Auf die Bühne aber mochte er zum Applaus nicht mehr kommen. Sein Anliegen mit dem auch für die Ruhrfestspiele gelisteten "Prisoner" ist gewaltig, seine theatrale Umsetzung nicht unbedingt.