Samstag, 20. April 2024

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"The Saracen and the Dove"

Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Ely. Herzlich willkommen zu Alter Musik, und zwar aus der Hochzeit der frühen Mehrstimmigkeit. Zwei renommierte Vokalensembles haben hochinteressante CDs vorgelegt. Das Huelgas Ensemble unter Paul Van Nevel brachte bei Sony eine CD mit Werken des Niederländers Alexander Agricola heraus, und der Orlando Consort thematisierte den Gegensatz zwischen den italienischen Höfen von Padua und Pavia bei Archiv Produktion unter dem Titel "The Saracen and the Dove - der Saraszene und die Taube". Gemeint sind damit die herausragenden heraldischen Zeichen in den Wappen der Carrara und der Visconteer, zweier rivalisierender Fürstenhäuser der italienischen Renaissance. Die Visconti herrschten von Pavia aus und rissen immer wieder die Macht in Mailand an sich. Die vorliegende Anthologie bietet Musik von der Wende des vierzehnten zum fünfzehnten Jahrhundert, also vom trecento zum quattrocento. Die herausragende Figur ist der Niederländer Johannes Ciconia, der aus Lüttich stammte und 1412 in Padova starb. Als Musiker mußte er sehen, wo er blieb, und so hat er denn für beide Fürstenhäuser komponiert. Den Carrara-Fürsten Zabarella pries er als einen Freund der Gelehrsamkeit: "Doctorum principem". * Musikbeispiel: Johannes Ciconia - aus: "Doctorum principem" Das war erst einmal ein Beispiel für die neue CD des Orlando Consorts: die Motette "Doctorum principem" von Johannes Ciconia. Ciconia zählte zu den Komponisten, die auf der Höhe der Zeit waren, also auch die erregten Rhythmen des französischen Stils in die Mehrstimmigkeit einzubinden verstanden. Überhaupt ist Ciconia viel stärker Ausdrucksmusiker als die meisten seiner Zeitgenossen. Schrieb er die Motette "Doctorum principem" ausdrücklich als Huldigung auf den Carrara Zabarella, so stellte er sich mit "Una panthera" in den Dienst der Politik der Visconti. Der Panther steht im Wappen der Stadt Lucca, mit der die Visconteer sich 1399 verbündet hatten. * Musikbeispiel: Johannes Ciconia - aus: "Una panthera" Johannes Ciconia: Una panthera. Ciconia ist auf der CD des Orlando Consorts am stärksten vertreten mit insgesamt neun Werken. Die anderen sind Bartolino da Padova, Antonella da Caserta und Antonio Zachara da Teramo. Der Orlando Consort verleiht dieser Musik einigen Nachdruck und in einigen Momenten sogar die Schärfe des damaligen Instrumentalklangs. Man spürt dieser Musik schon an, daß es um 1400 in Oberitalien keineswegs urgemütlich war, sondern daß es um Machtentfaltung ging, um Intelligenz und politische sowie rhetorische Raffinesse. Man könnte sich natürlich vorstellen, daß diese a-cappella-Musik sehr wohl colla parte von Instrumenten begleitet werden könnte und daß sie dadurch noch wesentlich an Kraft, an Durchschlagsfähigkeit gewönne. Wenn man anderseits aber bedenkt, daß der Orlando Consort mit maximal vier Stimmen, meist nur mit dreien besetzt ist und damit schon ein beachtliches Maß an Power entfaltet, dann kann man dieser Neueinspielung nur allen Respekt bezeugen.

Norbert Ely | 26.09.1999