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The Temperance Movement
Ein Gegenpol zum Zeitgeist

Von wegen: Rock'n'Roll ist tot! Er mag in den Massenmedien an Strahlkraft und Relevanz verloren haben, aber das Zeitliche hat er noch lange nicht gesegnet. Zumindest nicht so lange es Bands wie The Temperance Movement aus London gibt, die die Fahne des Bodenständigen, Erdigen und Schweißtreibenden hochhalten.

Von Marcel Anders | 04.02.2018
    5 Männer gehen durch eine Strasse. Die Strasse ist mit Kopfsteinpflaster. belegt.
    The Temperance Movement aus London halten die Fahne des Bodenständigen und Erdigen hoch (Earache / Warner Music)
    Musik:"Beast Nation"
    "Ich höre Songs von Teenagern, die über einen Lifestyle singen, von dem sie keine Ahnung haben. Da geht es nur um Glitzer und Glamour. Darum, auf den richtigen Partys zu sein, die richtigen Klamotten zu tragen, ständig Fotos von sich zu machen und sie auf Instagram zu posten. Das verstehe ich nicht. Aber es ist symptomatisch für unsere Zeit. Talentshows wie The Voice oder The X-Factor verzerren alles. Und damit hat The Temperance Movement nichts zu tun."
    Eine Abgrenzung – und eine unmissverständliche Kampfansage. Phil Campbell, nicht zu verwechseln mit dem Ex-Gitarristen von Motörhead, versteht seine Band als Opposition. Als Kontrapunkt. Als Hüter eines Sounds, der gerade ein wenig auf das zeitgeistliche Abstellgleis geschoben scheint. Und in einer schnelllebigen, volltechnisierten Welt dezent antiquiert wirkt - aber eine echte Mission verfolgt.
    "Ich habe The Temperance Movement immer als Band gesehen, die Rock'n'Roll so spielt, wie er gespielt werden sollte. Nämlich ohne ihn auf irgendeine Weise zu verwässern. Das ist alles, was wir tun. Und einige Leute halten das für altmodisch und mögen uns nicht. Das verstehe ich – aber es ist mir egal. Denn Rock'n'Roll dreht sich um die natürliche menschliche Performance – nicht um Elektronik, Laptops und die Produktion. Es geht um diejenigen, die ihn spielen."
    Musik: "Built-In Forgetter"
    Steiler Karrierestart
    Bei allem Idealismus und Sendungsbewusstsein: Auch The Temperance Movement haben ihre Probleme und Sorgen. Nach einem furiosen Debüt im Jahr 2013, das das schottisch-englische Quartett u.a. im Vorprogramm der Rolling Stones vorstellte, schlingerte die Band 2016 in eine echte Krise. Interne Spannungen, hohe Erwartungen und erste Ermüdungserscheinungen als Folge endloser Tourneen, äußerten sich in einem zweiten Album namens "White Bear", mit dem man nicht wirklich glücklich ist.
    "Ich habe versucht, mein Songwriting einzubringen, wurde aber nicht erhört - was frustrierend war. Und als wir ohne unseren Gitarristen Luke auf Tour gingen, stellten wir fest, dass wir auf "White Bear" etliche Fehler gemacht hatten: Einige Songs waren zu hoch, um sie richtig zu singen, andere zu schnell. Es war zu überhastet aufgenommen, und das ist uns erst spät klar geworden. Es war ein problematisches zweites Album."
    Musik: "Backwater Zoo"
    Alles wird hinterfragt
    Eine Erkenntnis mit personellen Folgen. Gitarrist Luke Potashnick und Schlagzeuger Damon Wilson verließen die Band. Das Kollektiv der ehemaligen Sessionmusiker für Deep Purple, Jamiroquai, Feeder, Ray Davies und Waterboys zerlegte sich selbst. Und durchlief eine Phase der Selbstfindung und Neuorientierung. Eine, die ihm im Nachhinein – so Phil Campbell – extrem gut getan hat.
    "Als Luke ausstieg, mussten Paul und ich erst einmal lernen, wie es ohne ihn weitergeht. Aber dann haben wir erkannt, dass damit eine neue Freiheit einhergeht. Denn jetzt kann ich auch eigene Songs einbringen, was mit Luke unmöglich war. Paul geht es genauso – er kann seine Ideen viel leichter umsetzen. Und wir haben zwei neue Mitglieder, die die Band lieben und eine wahnsinnige Energie besitzen. Ihr Motto ist: "Das ist toll, lass uns das so machen." Insofern hat uns dieses Album näher zusammengebracht. Es hat The Temperance Movement an einen Ort geführt, an dem wir vorher gar nicht hätten sein können."
    Musik: "Another Spiral"
    Was Campbell mit dieser Formulierung meint: Der Mix aus Led Zeppelin, Allman Brothers, Stones, Faces und Black Crowes ist noch überzeugender, weil vielseitiger geworden. Die Rocker sind dreckiger, kantiger und ruppiger. Die Balladen gefühlvoller und intensiver. So, wie es der Titel verspricht: "A Deeper Cut" – ein tieferer Schnitt.
    "Der Name 'A Deeper Cut' sorgt dafür, dass du an Gefühle denkst – und an Selbstmissbrauch. Und im Titelstück heißt es: 'Ich werde mich noch tiefer schneiden, um noch mehr zu bluten – damit du und ich noch mehr fühlen.' Es geht darum, am Leben zu bleiben indem man Schmerz akzeptiert und ihm nicht zu entkommen versucht."
    Musik: "A Deeper Cut"
    Musikalische Eigentherapie
    Schmerz hat Campbell scheinbar mehr als genug. Der Fourtysomething steckt in einer emotionalen Zwickmühle zwischen Band und Familie. Karriere und zwei kleinen Kindern, die er viel zu selten zu Gesicht bekommt. Was für permanente Spannungen mit seiner Frau sorgt. Und weshalb er sich in den Texten der zwölf Songs nicht selten selbst therapiert – mit Worten, die ich sich um seine zweite Ehe mit all ihren Höhen und Tiefen drehen. Aber auch mit Zeilen, die über den eigenen Tellerrand hinausblicken und sich mit der modernen Welt und Phänomenen wie Trump oder Brexit befassen.
    "Wir sind viel in Europa unterwegs und erleben vor allem glückliche, positive Menschen, die auf Rock´n´Roll stehen und uns gut behandeln. Insofern ist das, was da gerade passiert, einfach schrecklich. Die ältere Generation, also die alte Garde, hat uns ihre reaktionären Ansichten aufgedrückt – und das hat unser Land ruiniert. Dabei hätte niemand damit gerechnet, dass die Abstimmung dieses Ergebnis bringen würde – eben dass wir uns von Europa trennen. Das war das Letzte, was ich wollte. Denn eine der besten Sachen, die ich in meinem Leben erlebt habe, ist die europäische Union. Es ist eine Tragödie."
    Musik: "The Was It Was And The Way It Is Now"
    Ende März gehen The Temperance Movement wieder auf ausgedehnte Club-Tournee. Mit vier Gastspielen in Deutschland. Und einem Repertoire, bei dem sich Campbell als vorbildlicher Dienstleister erweist.
    Konzertprogramm abgestimmt auf Spotify-Clicks
    "Wir spielen Stücke vom ersten und zweiten Album, um die wir bislang einen Bogen gemacht haben, weil wir sie nie richtig hingekriegt haben. Das Großartige an Spotify ist, dass sich genau nachvollziehen lässt, was den Leuten gefällt. Nämlich anhand der Clicks, die in jedem Land anders sind. Deshalb behalten wir das im Auge – nach dem Motto: Deutschland steht auf 'White Bear' und 'Oh Lorraine'. Also stellen wir sicher, dass wir die Songs spielen. Während Frankreich eher dies oder das mag. Und Amerika wieder etwas ganz anderes. Da ist ein gutes System, um sein Publikum zu befriedigen."
    Musik: "Caught In The Middle"