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Theater
Loblied auf die Fantasie

Armin Petras hat "Buch (5 Ingredientes de la Vida)", das neue Stück seines Alter Egos Fritz Kater, an den Münchner Kammerspielen inszeniert. Es will zwar vielleicht manchmal etwas zu viel, durch ein wunderbares Ensemble sind die Anstrengungen aber weniger deutlich zu spüren.

Von Sven Ricklefs | 11.04.2015
    Buch, das liegt in Pankow und ist der Sehnsuchtsort für die zwei kleinen Kinder an der S-Bahn-Station, die auf die Mutti warten, um zum Vater zu kommen, bloß dass die Mutti nicht kommt und sie sich die Stunden des Wartens mit ihrer Fantasie auffüllen.
    Fantasie ist eine der "5 Ingredientes de la vida", der fünf Bestandteile des Lebens, von denen Fritz Kater im Untertitel seines Stückes spricht, die anderen sind Utopie, Instinkt, Sorge und: Liebe und Tod. Mit diesen Begriffen hat der Autor zugleich die fünf Teile seines Stückes überschrieben. Es sind fünf Episoden, die zunächst einmal für sich im Raum stehen und bei denen man erst nach und nach erkennt, dass sie durch wiederauftauchende Figuren oder durch wiederkehrende Motive untereinander lose verknüpft sind.
    Da ist etwa einer dieser Wissenschaftler, die in der Talkshowsituation der ersten Szene in fast widerlicher Selbstgefälligkeit ihre expansiven Menschheitsutopien zum Besten geben. Er ist der Vater jener Kinder, die verlassen auf dem Bahnsteig mit ihrem kindlichen Geist gegen die Kälte kämpfen. Und er wird auch später - durch seine zerbrochenen Utopien zum Alkoholiker geworden - immer wieder auftauchen. Oder da ist die Frau im letzten Teil mit dem Titel Sorge, die Frau des Künstlers, der durch die Weltgeschichte reist und Landartprojekte gegen Umweltzerstörung macht, die Frau, durch die das Prinzip Mutterschaft erneut thematisiert wird, und die ständig ihren Mann anruft und nur den einen Satz sagt: "Du bist nicht da, wenn Dein Kind krepiert. "
    Armin Petras alias Fritz Kater will viel mit seinem Stück und vielleicht will er manchmal auch ein bisschen zu viel. "Buch" ist ein Episodenparcour durch 50 Jahre, von den fortschrittsgläubig und utopiebesoffenen 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts bis hinein in unsere ebenso desillusionierte wie verzweifelte Endzeitstimmung heute. Petras will die Utopie für tot erklären und ein Loblied singen auf die Fantasie, er will der Conditio humana schlechthin auf den Grund gehen, er will der malträtierten Natur das Wort erteilen, indem er eine sterbende Elefantenkuh sprechen lässt, er bemüht mit Blaubarts Burg noch gleich einen eigentlich abendfüllenden Mythos und nimmt den selbstgefälligen Kunstbetrieb per se aufs Korn, indem der bei ihm auftauchende Künstler seine leidende Frau und sein krankes Kind installativ verarbeitet: "Ich habe vor, das Schlafzimmer meiner Frau nachzubilden, mit Paketen aus Trockenmilchpulver. daneben das Erbrochene vom Hasen, meine Frau, das Baby…"
    Und auch szenisch hat sich Armin Petras viel vorgenommen. So lässt er seine Uraufführungsinszenierung in der Spielhalle der Münchner Kammerspiele wie eine begehbare Installation beginnen, indem die erste Szene sich ausschließlich auf vier Leinwänden hoch über dem Raum abspielt, in dem die Zuschauer zum Stehen und Wandeln angeregt sind. Später verändert er immer wieder die Spielpositionen, indem er die Sitzbänke des Publikums umstellt, mal spielen die Schauspieler auf sich gegenüberliegenden Podesten, mal bespielen sie mit einem riesigen metallenen Elefantenskelett das Zitat aus einer vorhergehenden Szene, dem nun als Kunstinstallation seine Referenz zuteilwird, mal kommt eine Szene mit dem ästhetischen Drive des Tanztheaters daher. Dazu tritt der Gitarrist, Schlagzeuge und Sänger Miles Perkin als Livemusiker auf und erteilt dem Ganzen phasenweise den Touch eines Konzerts.
    Wäre da nicht ein wunderbares Ensemble, man würde die Anstrengung noch stärker spüren, die das Stück "Buch" nicht nur thematisch, sondern auch ästhetisch unbedingt über die Grenzen des Gewöhnlichen tragen will und die es manchmal auch geschwätzig und verquast macht. Doch wenn Ursula Werner in die erbarmungswürdige Speckigkeit des alkoholkranken Wissenschaftlers schlüpft, Thomas Schmauser sich in den Irrsinn eines Kunst und Leben verwechselnden Künstlers hineinsteigert oder Maximilian Simonischek und Svenja Lisau das kurze Glück einer naivsinnlichjungen Liebe ahnen lassen, dann versöhnt das mit einem Projekt, dessen Gestus Respekt verdient, auch wenn man es nicht durch und durch als gelungen bezeichnen kann.