Donnerstag, 28. März 2024

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Theater
Marthalers Anti-Heimweh-Vademecum

Christoph Marthaler bringt "Heimweh und Verbrechen" - nach einer gleichnamigen Studie von Karl Jaspers - ans Deutsche Schauspielhaus nach Hamburg. Ein schwieriges, schwer zugängliches Stück.

Von Michael Laages | 22.02.2014
    Die Promotion des Philosophen ist ein Baustein des Projektes; einige der Fall- und Täter-, besser: Täterinnen-Geschichten aus lang vergangener Zeit werden zitiert und rezitiert – und zwar so fremd, so verfremdet wie möglich.
    Josef Ostendorf, schon vor 20 Jahren einer von Marthalers Protagonisten, mit der Heimweh-Recherche im Dialog mit sich selber – aber derart konkret wird Marthalers Arbeit selten. Menschen erzählen extrem fragmentarisch vom Sehnsuchtsort, den sie verloren haben – und wie immer bei Marthaler singen sie uns auch ihr Leid; selbst wenn die Heimweh-Metapher nur noch vage in der Ferne glimmt, wie hier etwa bei Ueli Jäggis Lied vom kühlen Seemannsgrab …Einmal nur kommt wirklich Gänsehaut auf – denn wer spricht denn hier? Ulrich Voss (einst an der Berliner Volksbühne) als Erich Honecker in Chile? Sicher nicht – ihm ist ja zu kalt im letzten Exil. Und das ist in Chile nicht die Regel. Aber ein bisschen steckt auch von einem wie ihm in diesem Ex-Besitzer der Macht, der sich (wie er selber meint) nie etwas zuschulden kommen ließ und halt nur jeden Protest mit dem Tode bestrafte; nach Recht und Gesetz im eigenen, nunmehr verlorenen Land.Dass sich nun aber niemand irreführen lässt – "Heimweh und Verbrechen" dokumentiert nichts und niemanden. Der Abend setzt vielmehr die Reihe der klassischen Marthalereien fort – und zwar erstaunlich nah an den Verstörungen früherer Jahre. Denn nur die verklärende Sicht von heute lässt ja die Entwicklung dieses Theatermachers als dauernde Erfolgsgeschichte erscheinen – Marthalers Fantasien irrlichterten das Hamburger Publikum auch damals schon ratlos und schwindlig; und das Foyer-Diktum "So ein Quark!" von gestern Abend hat es genau so vor 20 Jahren gegeben. "Heimweh und Verbrechen" ist schwierig, schwer zugänglich, anstrengend und ermüdend, und es wird auch (noch so eine Legende von damals!) geschlafen auf der Bühne; allerdings nur ganz kurz und unter dem Teppich.Es gibt überhaupt einige sehr markante Zitate, die als solche überaus kenntlich sind und programmatisch sein sollen: etwa das (gefühlt) minutenlange Ensemble-Schweigen zu Beginn. Und natürlich als Ganzes Anna Viebrocks Bühne: eine Art Sanatoriums-Saal, aber vielleicht auch die Offiziersmesse eines Schiffes, mit Bekenntnis-Kanzel links und Mini-Hörsaal rechts; einem ärztlichen Behandlungszimmer von anno dazumal links hinten und einigen Schriften an den Wänden: "Mein Feld ist die Welt!", Motto und Mantra der Welteroberer von der Hamburger Schifffahrtslinie HAPAG.In dieser Welt driften die Spielerinnen und Spieler, Sängerinnen und Sänger hin und her, sprechen mal chorisch, mal allein in Schweizer Dialekten, auf englisch und französisch; und ein kryptisch-komischer Haus- oder Bord-Arzt, der gleich zu Beginn ein selbstgemixtes Anti-Heimweh-Vademecum empfiehlt für den Krankheitsfall und im weiteren im wesentlichen dirigiert, stiftet so etwas wie Ordnung. Aber all das wirkt absichtsvoll wie improvisiert, soll bloß nirgends irgendwie Halt bieten in einer "richtigen" Geschichte.Marthaler ist wieder da.Kann sein, dass er selber auch ein wenig Heimweh verspürt haben mag nach dem Hamburg von damals – mit "Heimweh und Verbrechen" findet er sich selber wieder. Aber die Geschichte wird nicht von vorn beginnen.