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Theater mit Mut zur Wucht

Die Inszenierung des Stückes "Zement" von Heiner Müller am Residenztheater München stellt das Leben von Personen grau dar: Sie sind in die Mühlen der russischen Revolution von 1917 geraten und wirken – je mehr die Ideologie Macht über die Menschlichkeit gewinnt – zunehmend verhärtet.

Von Sven Ricklefs | 06.05.2013
    Klein ist der Mensch und riesig ist der Raum. Riesig und leer. Grau wie Zement sind sie beide, die Bühne und dieses kleine starke Mädchen in ihrem Doppelkleidchen, das uns durch den Abend begleiten wird, strahlend und unberührt von dem Schrecken der Geschichte um sie herum. Selbst wenn es heißt es sei tot, kommt es wieder, wie eine unbeugsame Utopie, dieses Engelchen mit der starken Stimme, die uns die Mythen erzählt von Achilles etwa, von Herakles und von Prometheus, dem Leberleidenden.

    "Von Prometheus berichten vier Sagen. Nach der Ersten wurde er – weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet."

    Valery Tscheplanowa zeigt leibhaftig wie zart eine starke Bühnenpräsenz sein kann und liefert damit eine der großen Schauspielerleistungen an diesem Abend. Dem Programmheft nach soll sie das Kind sein: Njurka, das Kind des aus dem Krieg heimkehrenden Revolutionärs Gleb und seiner Frau Dascha, die es in den drei Jahren seiner Abwesenheit zur Führerin des Frauenproletariats gebracht hat. Allerdings machte sie diese Karriere auf Kosten von Njurka, die in einem staatlichen Kinderheim verhungern wird. Grau sind die Leben derer, die in die Mühlen der russischen Revolution von 1917 geraten und die Verrohung, Verhärtung schreitet voran, je stärker die Ideologie Macht über die Menschlichkeit gewinnt. Und so sind auch sie grau, sie, die mehr Wesen sind als Menschen, wenn sie sich gleich zu Beginn ängstlich gebeugt auf die Bühne des Residenztheaters vortasten, grau sind ihre Lumpen, grau ihre Tücher, die sich um ihre Gesichter wickeln und aus denen nur ihre Augen und ihre Münder gucken. Bühnen- und Kostümbildner Ezio Toffolutti hat wieder einmal Lemuren geschaffen, die wieder einmal das Volk bilden, das gesichtslose, das unbeholfene. Den Stichwortgeber:

    "Iwan Sergej
    Treten Sie vor Genosse
    Genosse
    Der ehemalige Hauptmann gleichen Namens …"

    Es sind wohl dieser Chor, und sein zur Schau gestelltes Pathos, die von Beginn an keinen Zweifel daran lassen, dass es der Regisseur Dimiter Gotscheff, der nun schon seit Jahrzehnten unermüdlich immer wieder Texte dieses deutschen Großdichters auf die Bühne bringt, dass es dieser sicherlich verdienstvolle Nachlassverwalter von Heiner Müller wieder bitterernst meint, mit eben diesem Heiner Müller und diesmal mit "Zement". Wie es ja auch Heiner Müller immer wieder Ernst meinte, wenn er uns das geschichts- und mythenbeladene Geröll seiner ebenso großen wie manchmal auch einfach großspurigen und arg schwerlastigen Texte vor die Füße rollte. Und so ist also oft THEATER angesagt, nun im Münchner Residenztheater, THEATER gleichsam in Großbuchstaben, mit allem Mut zur Wucht, zum großen Schrecken und zur großen Geste.

    "Ich will kein Weib sein, ich wollte, ich könnte mir den Schoß ausreißen."

    Man mag sich kaum ausmalen, was passieren würde, hätte man nicht so eine großartige Schauspielerin wie Bibiana Beglau vor sich, die ihre Dascha in eine Art Hyäne des Leids verwandelt, wenn sie davon erzählt durch welche Hölle sie gegangen ist, als sie, die Frau, im russischen Bürgerkrieg, in die Hände der Feinde und damit in die Hände von Männer fiel. Überhaupt sind es die Szenen zwischen Dascha und Gleb, zwischen Bibiana Beglau und dem als sensibler Revolutionsmacho daherkommenden Sebastian Blomberg, die dem ganz in Müllermanier in Wort und Gestus aufgeblasenen Geschichtspanorama das menschliche Gesicht verleihen: diese ganz privaten Szenen über Liebe und Beziehung und Geschlechterkonstellation in Zeiten von Revolution und ideologisch verordneter Gleichberechtigung. Doch wenn Heiner Müller, so scheint Regisseur Dimiter Gotscheff immer wieder zu sagen, wenn Heiner Müller, dann ganz. Und so verliert sich die Inszenierung schließlich im langatmigen Aufriss von Revolutionsgeschichte, an dem man beim Zuschauen nur mühsam das Interesse aufrechterhalten kann.