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Theater und politische Wirklichkeit auf der Couch

Mike Daisey, den die New York Times einen "Meistererzähler" und "einen der besten Solo Performer seiner Generation" nennt, kämpft für ein Widererstarken der Ensembletheater, die für ihre Zuschauer ein Repertoire erschaffen mit Schauspielern, die in diesen Theatern zuhause sind. "How Theater Failed America" ist ein leidenschaftlicher Schmerzschrei über ein sterbendes System und eine Erinnerung, warum wir das Theater so lieben.

Von Andreas Robertz | 14.06.2008
    Er sitzt hinter seinem Tisch, er ist unglaublich dick und er schwitzt. Er starrt mit seinen glühenden Augen ins Publikum und man weiß nicht so genau, ob der Tisch ihn vor dem Publikum schützt oder das Publikum vor ihm. Das Licht geht an und ein Abend beginnt, der eine Wucht hat, dass einem die Kinnlade herunterfallen lässt.

    Mike Daisey, den die New York Times einen "Meistererzähler" und "einen der besten Solo Performer seiner Generation" nennt, nutzt die ersten fünf Minuten seiner Zeit, dem Publikum zu erklären, wie schlecht der Titel dieses Abends ist und welche Erwartungen er wohl im Publikum weckt. Er dekonstruiert den Titel so lange bis er am Ende den wahren Schuldigen für die amerikanische Theaterkrise ausgemacht hat: das Publikum und Menschen, wie er, die Schauspieler. Und er nutzt die nächsten 60 Minuten dazu, zu erklären, was er damit meint. Es fordert einen Widerstand gegen das Theater als System, weil Publikum wie Künstler vergessen haben, dass es letztendlich um sie selbst geht und nicht um Entertainment und Showbusiness. Obwohl er so urkomisch ist, fühlt man, dass es ihm todernst dabei ist. Er fragt nach dem Sinn des tief in die Krise geratenen Regionaltheatersystems in Amerika, einem System, dass immer neuere und größere Theaterhäuser mit sehr viel Geld baut und Stars vom Broadway einfliegt und dabei langsam aber sicher sein Publikum verliert, weil jenes sich nicht mehr mit seinem Theater identifizieren kann.

    Ein System, das vergessen zu haben scheint, warum es ursprünglich geschaffen wurde, nämlich um ein Theater für die Menschen zu sein, die es machen und die es besuchen. Er stellt die beängstigende Frage, was eigentlich passieren würde, wenn die Theatermanager, die ihre Tickettpreise immer weiter senken müssen, weil nicht genug Zuschauer kommen, am Ende vor der erschreckenden Tatsache stehen, dass selbst, wenn die Tickets umsonst wären, keiner mehr kommen würde.

    Die Gründe dafür findet Daisey in der Tatsache, dass das Theater keinen Kontakt mehr zu seinem Publikum aufbaut und zu einer Institution geworden ist, die vergessen hat, ein neues Publikum zu kreieren und deren altes langsam wegstirbt. Er mischt diese Feststellungen mit persönlichen Geschichten aus den Anfängen seines Schauspielerlebens, als er mit wenigen Freunden ein Theater in der absoluten Verlassenheit von Maine gründete und sich alle bis zur Schmerzgrenze selbst ausbeuteten, aber dafür wussten, was sie liebten. Und er spricht von den Zeiten, wo er voller Depressionen zwei Selbstmordversuche machte und dann durch die Theaterarbeit mit Jugendlichen wieder neue Lebenskraft gewann. Einer der absurden Höhepunkte des Abends ist, als er erzählt wie er in Seattle in der wilden Theaterszene der 80er Jahre in einer Aufführung von Genets "Der Balkon" als Bischof vor dem Publikum masturbieren musste und genau in diesem Augenblick eine zu spät kommende Familie mit zwei Kindern das Theater betrat. Er schwor sich hinterher, nie wieder Theater zu spielen.

    All diese Geschichten sind voller Liebe und Leidenschaft für ein Theater, das wie er findet, im Gegenzug seine Künstler schlecht behandelt, sie zu Gastspielen zwingt, die ihre Beziehungen ruinieren und die dafür niemals die Anerkennung und Bezahlung erfahren, die sie verdient haben.

    Daisey kämpft für ein Widererstarken der Ensembletheater, die für ihre Zuschauer ein Repertoire erschaffen mit Schauspielern, die in diesen Theatern zu hause sind. "How Theater Failed America" ist ein leidenschaftlicher Schmerzschrei über ein sterbendes System und eine Erinnerung, warum wir das Theater so lieben. Der Abend findet im Internet, in den Zeitungen und in Diskussionen nach den Aufführungen einen großen Widerhall bei den Theaterschaffenden im Land, deren einer Teil ihn für naiv und überzogen hält und deren anderer Teil ihn zum Anlass nimmt, das gesamte System "Theater als Business" in Frage zu stellen. Die New York Times nennt den Abend einen "Schrei zum Handeln". Und falls wir in ein paar Tagen nicht mehr wissen sollten, was Mike Daisey genau gesagt hat, werden wir uns doch sehr genau daran erinnern, wie dieser dicke schwitzende Mann uns an diesem Abend so leidenschaftlich angeschriene hat, dass wir selbst das Theater sind und das wir uns entscheiden können, was wir als unser Theater begreifen.