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"Wenn die Bombe fällt, bist du ein Märtyrer"

Der neue europäische Extremismus der Salafisten und der Rechtsradikalen hat den Schweizer Dramatiker Milo Rau beschäftigt. Anhand von vier Biografien betreibt er in seinem Stück "The Civil Wars" eine Art politischer Psychoanalyse. Das Thema der Vaterfigur, beziehungsweise der Abwesenheit des Vaters, durchzieht die Inszenierung dabei wie ein roter Faden.

Von Marion Rothhaar | 28.08.2014
    Der Regisseur Milo Rau
    Der Regisseur Milo Rau (dpa / picture alliance / Anton Novoderezhkin)
    Mit einem Thema, das aktueller nicht sein könnte, eröffnet das Stück. Der Vater von Joris, einem belgischen Teenager hat seinen radikalisierten Sohn im Bürgerkriegsgebiet in Syrien aufgespürt und über die Türkei zurück nach Europa gebracht.
    Sébastien Foucault ist einer der 4 Schauspieler von "The Civil Wars". Er berichtet im Prolog von der eigenen Sehnsucht nach einem solchen Vater und nach Liebe.
    Das Thema der Vaterfigur durchzieht die Inszenierung wie ein roter Faden. Interessante Analogien fand Milo Rau zwischen den Biographien der Extremisten und derer der Schauspieler: abwesende Väter und fehlende Vorbilder, Verunsicherung und die Suche nach Anerkennung.
    Die Motive der Dschihadisten dienten Milo Rau nur noch als Ausgangspunkt für ein Stück, das in über 2 Stunden die Biografien der vier Schauspieler ausrollt. Ein klassisches Kammerspiel, dramaturgisch klar strukturiert in fünf Akten, eingerahmt mit lieblicher barocker Musik von Bach, Pergolesi und Händel in einem klassischen gleichbleibenden Bühnenbild: ein Wohnzimmer mit Couch, Sitzgelegenheiten, Bücherregal und Familien-Fotos an den Wänden.
    Ist das noch Milo Rau? Ist das politisch?
    Nach Form und Inhalt scheint "The Civil Wars" zuerst weit entfernt von Raus früheren Stücken. Es ist persönlicher, wirkt privater und behält dabei doch einen dokumentarischen Charakter. Das Private ist politisch, wie wir wissen.
    Die Akteure erzählen auf Französisch und flämisch Szenen aus ihrem Leben. Sie bringen Fotos mit, Erinnerungsschnipsel und Kindheitserinnerungen, schöne und schreckliche. Dabei nehmen sie auf der Freudschen Couch Platz und werden gleichzeitig überlebensgroß in Schwarzweiß auf die Rückwand über ihren Köpfen projiziert.
    Nichts entgeht der Kamera, keine noch so kleine Regung.
    Allen Erzählungen gemeinsam ist die Abwesenheit eines starken Vaters.
    Diese sind entweder früh gestorben, wahnsinnig geworden, brutale Schläger oder ständig betrunken.
    Der Vater der Flämin Sarah De Bosschere war früher ein engagierter Trotzkist, nun ist er ein einsamer Alkoholiker, der an der gesellschaftlichen Realität zerbrach und depressiv wurde.
    "Die Hölle das sind die anderen – oder deren Abwesenheit."
    An keiner Stelle wird es laut. Ganz sachlich und ruhig halten die Erzählungen eine Balance zwischen Nähe und Distanz. Dass Milo Rau diesmal ganz auf seine Schauspieler gesetzt hat, ist ein kluger Zug, wenn auch nicht alle Passagen gleich stark sind.
    "The Civil Wars" streift viele Themen: Migration, die 68er Generation, Umweltzerstörung oder die Brutalität des Kapitalismus.
    Anhand der Umwälzungen der Gesellschaft zeigen die vier Einzelschicksale exemplarisch die Entwicklungen in Europa in den letzten 30 Jahren.
    Viel Schmerzhaftes ist darunter aber auch manches zum schmunzeln: Wenn etwa der Theater - und Filmstar Johan Leysen Anekdoten aus seiner Schauspierlaufbahn preisgibt zum Beispiel über ein Engagement bei Jean-Luc Godard.
    Präsentieren nicht repräsentieren ist Raus Methode der Schauspielerführung - wie bei Godard. Das ist dein Text, es gibt keine Figur, lediglich eine Struktur - wie in einer Musikpartitur.
    Und so schließt "The Civil Wars" mit der Rahmenhandlung des jungen Belgiers und Syrien-Heimkehrers Joris am Ende des 5. Aktes, der den Titel "Apokalypse" trägt.
    "Wenn die Bombe fällt, bist du ein Märtyrer."
    In Europa fürchtet man sich zur Zeit besonders vor diesen noch stärker radikalisierten Rückkehrern und ihren möglichen Attentaten.
    "The Civil Wars" betreibt auf eine kluge und berührende Weise eine Art politischer Psychoanalyse und macht damit Gründe für das Scheitern von Biographien plastisch.