Donnerstag, 18. April 2024

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Theaterfestival in Avignon
Antigone als japanische Prinzessin

Ein betörend schönes Bildertheater mit zeremonieller Gestik und musikalisch getakteter Liturgie: Mit "Antigone" und vielen Bezügen zum japanischen Theater eröffnet der Regisseur Satoshi Miyagi das Theaterfestival in Avignon.

Von Eberhard Spreng | 07.07.2017
    Der Papstpalast in Avignon.
    Satoshi Miyagi inszeniert Sophokles' "Antigone" auf der Bühne des Papstpalastes in Avignion. (Deutschlandradio / Eberhard Spreng)
    Wasser bedeckt die weite Bühne des Papstpalastes. Einzelne Felsen ragen empor. Mehr als 20 Akteure in weißen Gewändern waten bedächtig durch das Wasser, jeder trägt eine kleine Kerze vor sich her. Dann gleitet ein Fährmann mit einem Floß zwischen ihnen hindurch und sammelt die Lichter ein, weil ihre Träger nun in den Hades eintreten müssen.
    Diese japanische Antigone spielt auf dem Acheron, der Passage zwischen Tod und Leben, und alles deutet darauf hin, dass Satoshi Miyagi seine Schauspieler nicht zu Akteuren einer Tragödie machen will, deren Konflikt sich vor den Augen der Zuschauer entfaltet, sondern zu Figuren in einem Mythenspiel, das rituell an eine lange vergangene Geschichte erinnert.
    Einflüsse des japanischen Theaters
    Im seinem vom Bunraku und Kabuki, vor allem aber vom humoristischen Rakugo beeinflussten Theater doppelt der Regisseur die Protagonisten, allen voran Antigone und die auf Ausgleich bedachte Ismene: Zwei Schauspielerinnen hocken bewegungslos auf kleinen Schemeln mitten im Wasser und sprechen die Worte, zwei weitere sind in dramatischer Pose auf einem zentralen Felsen zu sehen. Ihre gewaltigen Schatten ragen hoch auf, auf der Fassade hinter der Bühne des einstigen Zentrums der französischen Päpste.
    Und einmal ist da auch in dieser Antigone der Schatten einer segnenden Marienfigur zu ahnen. Antigone, die große Kämpferin gegen die Tyrannenwillkür als antike Vorläuferin der christlichen Ikone? Ein Gedanke, der in der Aufführung keine Fortsetzung findet.
    Die Protagonisten und den Chor begleitet ein Perkussionsensemble an der Bühnenrückseite mit ziemlich groovigen Rhythmen. Mehr als die Psychologie der politischen Debatten ums Gesetz der Götter und das der Menschen treibt Musik das Geschehen voran.
    Menschenrecht contra Entscheidungswillkür
    Antigone bleibt unbeirrt, wenn sie gegen Kreons Tyrannenwillkür altes, überzeitliches Menschenrecht einfordert und dafür in den Tod zu gehen bereit ist. Natürlich wäre in unserer Zivilisation naheliegend, den alten Streit der Rechtsauffassungen mit der Gegenwart des neuen Despotismus', den Trumps, Erdoğans, Putins zu verknüpfen, um diese vielleicht politischste aller griechischen Tragödien für uns heute noch einmal beredt zu machen.
    Natürlich sind wir Europäer immer mit Antigone fürs Menschenrecht und gegen die Entscheidungswillkür der Despoten. Aber dieses betörend schöne Bildertheater mit seiner abgeklärten, zeremoniellen Gestik und seiner musikalisch getakteten Liturgie hat solchen Streit längst hinter sich: Es spricht ja schon aus dem Totenreich zu uns.
    Der Buddhismus kennt keine Hölle
    Satoshi Miayagi lässt von Anfang an keinen Zweifel darüber aufkommen, dass Kreon gar nicht recht haben kann: Denn selbst wenn Polyneikes Theben verraten und vielleicht sogar in christlichem Sinne sündig gefrevelt hätte, so wäre mit seinem Tod jede Schuld gesühnt. Der Buddhismus kennt keine Hölle, wie das Programmheft erklärt. Das Böse ist also nichts, was einem noch nach dem Tod anhaftet.
    So sitzt das Publikum also staunend und verzaubert vor einem Ritus, dessen Plot genauso dem Mahabharata hätte entnommen sein können, und erlebt Antigone als eine japanische Prinzessin im Zwischenreich, wo allein schon das Wasser mit seinen lustigen, aufs finstere christliche Mauernwerk projizierten Reflexen die Sinne verzaubert.