Freitag, 19. April 2024

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Theaterfestival Under the Radar
Reflexionen über die Grenze zwischen Realität und Fiktion

Das Performance- und Theater-Festival Under the Radar in New York hat in diesem Jahr viel mit neuen Formen und Themen experimentiert. Dass dabei auch junge, unbekannte Künstler zum Zug kamen, erwies sich nicht nur als kluger Schachzug, sondern auch als echter Zugewinn.

Von Andreas Robertz | 20.01.2015
    Mariano Pensottis Stück "Cineastas" aus Argentinien handelt von vier argentinischen Filmemachern und ihren Filmen. Fünf Schauspieler spielen in zwei übereinandergestapelten Containern, unten die realen Geschichten der Regisseure und oben die Filmgeschichten. Ein Mikrofon wird zwischen den Schauspielern hin- und hergereicht, das sie jeweils zum Erzähler macht. Das Publikum muss oft die Entscheidung fällen, welcher Geschichte es folgen will. Die Wechsel zwischen Erzählern, Bühnen- und Filmfiguren sind bewundernswert leicht und präzise und die Dialoge und die Absurdität der Situation erinnern an den Humor Pedro Almodóvars. "Cineastas" ist eine hoch anspruchsvolle Reflexion über die Grenze zwischen Realität und Fiktion.
    Mit der Überflutung der Sinne durch simultan erzählte Geschichten spielt auch die brasilianische Truppe Companhia Hiato mit ihrem Stück "Oh Jardim". Auf einer Bühne voller Umzugskartons geht es um drei Geschichten aus verschiedenen Zeiten in der Villa einer reichen Familie: zwei Schwestern feiern den Geburtstag ihres Vaters, bevor er in ein Altersheim muss; ein Ehepaar teilt die Überreste seiner gescheiterten Beziehung unter sich auf und die Urenkelin löst mit den letzten Kartons den Haushalt auf, da sie das Haus nicht mehr finanzieren kann. Manchmal sind die Szenen durch die Kartons getrennt, dann wieder agieren alle zusammen und lassen so die Zeitlinien verschwimmen und manchmal schauen sich die Schauspieler gegenseitig zu, als sähen sie ihre eigene Erinnerung.
    Under The Radar 2015 will in diesem Jahr mit Stücken aus sechs Ländern - unter anderen aus England und dem Iran - mit Hilfe neuer Erzählformen Wirklichkeit hinterfragen. Die Kultur der Gleichzeitigkeit in den neuen Medien, die Möglichkeit des Herunterscrollens und des Abrufens komplexer Informationen in kürzester Zeit führen zu neuen erzählerischen Formen. Zum Beispiel in der Arbeit des amerikanischen Regisseurs Daniel Fish mit seinem Abend "A radically condensed and expanded supposedly fun thing I’ll never do again" mit Texten des 2008 verstorbenen amerikanischen Kultautors David Foster Wallace. Während des Einlasses feuert eine Ballmaschine Tennisbälle auf das Bild eines Tennispartners an der Rückwand der Bühne. Vier Spieler mit Kopfhörern bewegen sich langsam wie in Trance auf der mit Bällen übersäten Bühne und zitieren mit enormer Konzentration die verschachtelten und komplizierten Texte, die sie direkt aus Kopfhörern eingespielt bekommen. Sie reden durcheinander, oft im Chor und manchmal minutenlang am Stück. Die Texte werden allein durch das Atmen strukturiert und es entsteht ein fast rauschhafter Fluss von Sprache, ein spannendes Konzept.
    Indische Transgender-Aktivisten begeistern
    "Because that went so well my total expenses were 24 dollar Harpers claimed to reward me by sending me on an all expenses paid luxury Caribbean cruise this cruise took place in March of 1995 it was done by Celebrity Cruise Lines which is actually one of the more reputable cruise lines operating out of Florida what else to tell you."
    Deutlich provozierender ist aber das indische Duo Darkmatter mit ihrem Abend "#itgetsbitter". Der Kunstform des Poetry Slams verpflichtet, bombardieren die beiden Transgender-Aktivisten ein begeistertes junges Publikum mit messerscharfen Texten zum Thema Liebe, Sex und Politik.
    "This is not longer about you! You, the twenty-year-old self-proclaimed performance artist who speaks his mind in public when it’s not too controversial, whose favored word is colonialization, which you serve at cafes build on occupied land, flirting with other radical activists who give you Bell Hooks quotes to recycle on your Facebook profile sometimes – ups – you forgot to tip the waiter, cause a girl gotta afford the #redin, the #Brooklyn, the #struggle is real sometimes."
    Der tägliche Rassismus Amerikas ist für sie kein Ausdruck individuellen Fehlverhaltens, sondern einer gut kalkulierten, millionenschweren Industrie. Sie sind politisch, witzig und ungemein wortgewandt: Theater als poetischer Agitprop.
    Auch in seinem elften Jahr hat Under The Radar nichts von seiner Popularität verloren. Die Öffnung des Theater- und Performancefestivals für junge unbekannte Künstler ist dabei nicht nur ein kluger Schachzug, sondern ein echter Zugewinn.