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Theatermusiken von Telemann und Gluck

Im Folgenden geht’s um Theatermusik des 18. Jahrhunderts. Ich möchte Ihnen dazu gern zwei neue CD-Produktionen mit Opern Christoph Willibald Glucks und Georg Philipp Telemanns anspielen.

Von Frank Kämpfer | 25.09.2005
    * Musikbeispiel: Telemann - aus: Pastorelle en musique

    Werbung und Ablehnung - Urform aller Erfahrung. In seine schmachtenden Worte ist formvollendet ein ganzes Dasein gelegt, in ihrer Zurückweisung schwingt Laune, Momenthaftigkeit. Was hier zwischen Damon und Caliste beginnt, ist typisch für manches barocke Schäferpaar, das auf der Bühne der Oper füreinander bestimmt ist und erst nach gehörigen Gefühlskapriolen in sein Schicksal eintreten wird.

    Dies bedürfte kaum vertiefter Erwähnung, zöge sich der offenbar recht sensible Bewerber angesichts ihres Schweigens nicht in eine schmerzliche Arie zurück und damit in eine seiner Künftigen bis zuletzt auf doppelte Art fremde Sprache: ins Französische und in die Welt der Innerlichkeit. - Unabdingbar zum rechten Verständnis von Georg Philipp Telemanns Gelegenheitsstück "Pastorelle en musique" ist allerdings noch ein weiterer Umstand: dass nämlich nur Minuten zuvor der angehimmelten Damen gleich zwei im Duett als höchstes Gut nicht die Ehe, sondern ihre Selbständigkeit preisen.

    * Musikbeispiel: Telemann - aus: Pastorelle en musique

    Unmissverständlich in deutscher Sprache klingt das Signalwort. "Freiheit" aber ist im Entertainment-Bereich der gehobenen Bürgerschaft Frankfurt/Mains, für die Telemann seine Serenata komponiert und aufgeführt hat, doppelzüngig gemeint: politisch gewiss, aber viel eher doch sexuell. Denn im Rahmen jenes Arkadien - das Zeit und Ort des Geschehens der Pastorale darstellt und darüber hinaus das idealisierte Gefühlsempfindens der Zeit - sind Bürger und Bürgerin gern schon einmal so frei wie das Adelsgeschlecht, das man eines fernen Tags stürzen, zunächst aber nur nachahmen will.

    Was Georg Philipp Telemann, 31-jährig, von alledem weiß oder mit initiiert, sei dahin gestellt. Immerhin, er ist nicht nur der Komponist jener Hochzeits-Serenade, die irgendwann zwischen 1712 und 1721 in der Mainmetropole beauftragt und aufgeführt wird. Er ist auch der Leiter des Collegium musicum und somit einer der Mitbegründer der städtischen Konzertkultur - und er verfügt als Geschäftsführer einer wichtigen Frankfurter Ratsfraktion über einen imposanten Veranstaltungssaal, wo die High Society Feste abhält, für die der Orchesterchef dichtet und komponiert.

    Im vorliegenden Fall ist neben dem Titel auch die Vorlage französischer Art. Inspiration fand Telemann u.a. in einem gemeinsam von Moliere und Lully für Louis XIV. erschaffenen Comédie-Ballet namens "Les amants magnifiques", dessen eines Intermezzo die freie, institutionell nicht gebundene Geschlechtsliebe preist. Freilich gestaltet der Komponist kräftig um: er konstruiert zum ungleichen Paar Damon und Caliste (Tenor und Sopran) ein zweites hinzu, Amyntas und Iris (Alt und Sopran), die sich höchst eifrig zu Bindung und Treue entschließen und deshalb vorbildhaft sind: auf dass - man bedenke den Aufführungsanlass! - auch das Haupt-Paar - musikalisch effektvoll - den Hafen der Dauerbeziehung anstrebt.
    Dirigent Kirill Karabits hat die "Pastorelle en musique" übrigens als Partitur-Abschrift bei Recherchen zu Carl Philipp Emanuel Bach in Kiewer Archiven gefunden, darauf hin eine Computerpartitur erstellt und das theatrale Kleinod Ende Mai vergangenen Jahres im Rahmen des Österreichischen Jeunesse-Festivals vorgestellt; der Mitschnitt ist vor einigen Tagen beim Label Capriccio als Weltersteinspielung und im Surround-Format erschienen und er birgt den Geist unbeschwerter Jugendlichkeit.

    Ambitionierte Ausführende haben ihren Anteil daran - wie hier ein Ausschnitt aus dem Jubelchor gegen Ende der gut 100minütigen Aufnahme verdeutlicht: Doerthe Maria Sandmann, Barbara Fink, Matthias Hausmann, Lydia Vierlinger und Bernhard Berchtold sind die Solisten und bilden gleichfalls den Chor - die Grazer Capella Leopoldina musiziert auf historischem Instrumentarium.

    * Musikbeispiel: Telemann - aus: Pastorelle en musique

    Soweit hier ein Hineinhören in Georg Philipp Telemanns zweisprachige Serenata "Pastorelle en musique".

    Von zweien, die nicht leicht zueinander gelangen, handelt auch die zweite musikalisch-theatralische Neuproduktion, die ich Ihnen heute kurz anspielen will. Der Grund ihres Getrenntseins freilich ist anderer, existenziellerer Art.

    * Gluck, Orphée et Euridice

    Er fordert sie auf, ihm zurück ins irdische Leben zu folgen - sie verweigert, hält entgegen, bevor sie gehorcht, um aufs Neue zu sterben. Jean-Paul Fouchécourt und Cathrine Dubosc gestalten beider Duett höchst emotional. Der Selbstbestimmungs-Versuch der weiblichen Titelgestalt in Christoph Willibald Glucks berühmter Oper "Orphée et Euridice" dauert jedoch nur einen Moment - in erster Instanz ist die Figur Spielball von Mächten, die Sterbliche je nach Bedarf manipulieren. Ohnehin ist sie vier Akte lang fast völlig sprachlos - ihren vermeintlichen Partner hingegen erhebt seine Trauer um ihren Verlust zum Künstler, zum Star, der - welch ein Modell! - aus dem Tod einer Frau Kunst produziert.

    Ob bereits Zeitgenossen kritische Fragen an diese Konstellation stellen, ist nicht überliefert. Nur eines ist klar: Librettist de Calzabigi hat zur rechten Zeit ein populäres Libretto zur Hand und der Wiener Opernreformer Christoph Willibald Gluck findet eine musikalische Sprache dazu, die die bisherige Dramaturgie der Oper deutlich modernisiert. Nicht mehr Arien und Rezitative bestimmen das Bild, durchkomponierte Szenen erscheinen - nicht mehr Typen agieren, die Szene suggeriert singende Menschen aus Fleisch und Blut, denen man nachfühlen kann.

    Die Washingtoner Opera Lafayette, vor einigen Jahren hervorgegangen aus dem Spezial-Ensemble The Violons of Lafayette und dem Redwoods Festival, hat sich für die heute selten gespielte Pariser Version der Oper entschieden. Gluck, 60jährig bereits, erstellt sie 1774 infolge des massiven Erfolgs, den seine Reform-Opern in der französischen Hauptstadt erfahren. Auch die Rezitative sind nun orchestriert, das ganz Gefüge wirkt musikalisch kompakt, statt eines Kastraten singt den Orphée standesgemäß ein Tenor und die Zahl der Tänze, die den finalen Triumph treuer Liebe bzw. die Allmacht der Götter garnieren, wächst fast bis ins Unendliche an. Ryan Brown am Pult des amerikanischen Spezialensembles hat sich speziell an der Partitur der Pariser Premiere am 2. August 1774 orientiert und somit eine geraffte, dramatisch pointierte Lesart des Stücks dokumentiert, die in manchen Passagen vor allem orchestral mächtig zuspitzen kann.

    * Musikbeispiel - Christoph Willibald Gluck - aus: "Orphée et Euridice"

    Christoph Willibald Gluck’s Oper "Orphée et Euridice" - mit den Ensembles der Washingtoner Opera Lafayette eingespielt im Januar 2002 in der University of Maryland - im Sommer erschienen beim Label Naxos.

    "Georg Philipp Telemann - Pastorelle en Musique"
    Solisten: diverse
    Orchester: Capella Leopoldina
    Leitung: Kirill Karabits
    Label: Capriccio
    Labelcode: LC 8748
    Bestellnr.: 2SACD 71054/55

    Christoph Willibald Gluck - "Orphée et Euridice"
    Solisten: diverse
    Ensembles: Opera Lafayette and Chorus
    Leitung: Ryan Brown
    Label: Naxos
    Labelcode: LC 0537
    Bestellnr.: 8.660185