Donnerstag, 25. April 2024

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Theaterreihe "Stadt der Angst"
Von der Oberfläche zum Subkutanen

Zuerst betrachten wir Deutschland von oben, dann die Stadt von der Seite und schließlich die Schauspieler von innen. Wie in einem Zoom sollen die drei Inszenierungen in der Reihe "Stadt der Angst" am Theater Dortmund am Ende bis unter die Haut gehen. Dabei driftet der Leitgedanke "Angst" in Richtung "Druck" und "Depression". Dafür steht vor allem das letzte Stück der Reihe: "4.48 Psychose" der radikalen Dramatikerin Sarah Kane.

Von Christiane Enkeler | 05.05.2014
    Das Opernhaus (vorn), dahinter das Theater auf dem Platz der Alten Synagoge in Dortmund.
    Mit drei Stücken wurde die Reihe "Stadt der Angst" am Theater Dortmund eröffnet. (dpa picture alliance / Horst Ossinger)
    Es war ihr letzter Text, bevor sie sich, noch keine 30, das Leben nahm. Schauspielintendant Kay Voges liest das Stück als Darstellung eines inneren Krieges und will einen "Mensch-Maschine-Knoten" entstehen lassen: Die Poesie des Textes soll sich durch das Team, vor allem durch die Schauspieler hindurch in Licht und Klang verwandeln. Die drei Darsteller sind verkabelt. Sie bespielen eine multimediale Box, deren Wände Projektionsflächen sind für Film und Schrift. EKG, EMG, Temperatur, vor allem Puls- und Atemfunktionen speisen eine Computersoftware, die die Daten zu Ton- und Lichteffekten umwandelt: Die Film-Herzen auf den flimmernden Gazewänden schlagen im Takt der Darstellerherzen.
    Immer wieder wird das Filmbild auch schwarz-weiß. Die Gesichter der Darsteller lösen sich dabei fast auf im Kontrast.
    "...in die Enge getrieben von dieser sanften Psychiater-Stimme der Vernunft, die mir sagt: Es gibt eine objektive Realität, in der mein Geist eins ist mit meinem Körper."
    Sarah Kane stellt in ihrem Text die Frage nach einer Persönlichkeit zwischen Geist und Materie, die sich messen und von Medikamenten beeinflussen lässt.
    Kay Voges inszeniert mit Ernsthaftigkeit und einem Pathos, dem man nicht immer folgen kann. Die Mensch-Maschine entfremdet. Bild und Ton sind faszinierend. Der technische Aufwand erstaunt. Die Frage nach der Angst ist in dieser Inszenierung wie auch zu Beginn des Abends die Frage nach Glück und Zufriedenheit, die uns zu ersticken droht, weil sie als Imperativ und Ist-Zustand über alle Kanäle geht.
    Regisseur Marcus Lobbes hat als Fredt Hund ein Stück geschrieben, "Autschland d'Amour", dessen Uraufführung den Abend eröffnet: eine Publikumsansprache. Hier hat er sie selbst inszeniert, als zynische Gala-Preisverleihung. Zwei Moderatoren führen hindurch mit ihren Fragen zum allgemeinen Konkurrenz- und Glückseligkeitsdruck. Die Fragen werden zu Feststellungen wie "Sie essen ausgewogen! Sie leben gesund!", bevor die Sprache ganz verstümmelt. Der Preis des Abends, die Statuette des "Autsch", eine Art Oscar, der die Hände vor dem Kopf zusammenschlägt, geht immer an: Autschland. Eine frei hängende Leinwand wirbt gleichzeitig mit wechselnden Bildern in hellen Farbtönen für seichte Wellness-Normalität im Leben.
    Parforceritt für Zuschauer und Team
    Zu "Autschland" gibt es ein Vorspiel, in dem sich deutsche Gestalten der Geschichte auf der Bühne versammeln: Sophie Scholl und Luther, Angela Merkel und Schiller, Karl Marx und eben auch Hitler - allzu beliebig. Dagegen ist die Grundidee der darauf folgenden Preisverleihung aber gut: Selten sieht man frisch geschriebene Texte zu diesem Thema mit so viel Bühnenraum und Glamour so bösartig inszeniert. Damit betont Lobbes die Oberfläche und den Platz, den die Gesellschaft ihr einräumt. Das übergeordnete Konzept für die gesamte Reihe mit allen drei Stücken wird so erkennbar: von der Oberfläche zum Subkutanen. In Sarah Kanes Stück am Ende öffnet man sich, filmisch, die Adern. Und "Autschland" ist das sehr lange Vorspiel zu Gogols "Revisor", an dessen Ende sich in dieser Inszenierung die korrupte Stadtspitze auch noch die Haut abzieht, um sie dem vermeintlichen Revisor zu opfern.
    "Er hat so was Vernünftiges im Gesicht. Und alles, der Ausdruck, die Manieren, ist von so überlegener Art... – da steckt was dahinter!"
    "Der Revisor", das Mittelstück der Reihe, ist bei Lobbes ein (fast) reines Chorstück, konzentriert und stark, aber auch lang. Vorn auf der Bühne sitzen sechs Darsteller in einer Gruppe: Alle sprechen alles, verteilt und rhythmisiert. Kontrastiert von einem kraftvollen Sprechchor, der viel Druck macht. Natürlich hat man bei Gogol auch Angst. Dass man auffliegt. Beiderseits: die korrupte Stadtspitze und der kleine Beamte, den jene für den Revisor hält.
    Das ist ein ganz schön langes Programm für eine neue kleine Reihe, ein Parforceritt für die Zuschauer und fürs Produktionsteam offenbar ein tatsächlicher "Stresstest", wie es in den Anmerkungen zu "Autschland" heißt. Es ist in rund vier Wochen durch die Proben gerast. Die Regie-Konzepte sind interessant, aber nicht durchgehend überzeugend. Die Schauspieler liefern allesamt eine hervorragende Leistung ab.