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Theodor Heuss und Israel
Aktive Wiedergutmachung

Der erste deutsche Bundespräsident Theodor Heuss sprach nach dem Holocaust von der tiefen Scham des deutschen Volkes und setzte sich für eine Verständigung mit dem Judentum und mit Israel ein. Dennoch ist Heuss nicht zu idealisieren, meint der katholische Theologe Karl-Josef Kuschel in seinem Buch "Theodor Heuss, die Schoah, das Judentum, Israel".

Von Thomas Klatt | 14.08.2014
    Der damalige israelische Ministerpräsident David Ben-Gurion begrüßt den deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss 1960 in Tel Aviv. Schwarz-weiß-Aufnahme
    Der damalige israelische Ministerpräsident David Ben-Gurion mit dem deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss 1960 in Tel Aviv. (dpa/picture alliance/UPI)
    "Die Völker, die hier die Glieder ihres Volkes in Massengräbern wissen, gedenken ihrer, zumal die durch Hitler zu einem volkshaften Eigenbewusstsein schier gezwungenen Juden. Sie werden nie, sie können nie vergessen, was ihnen angetan wurde."
    Theodor Heuss im Konzentrationslager Bergen-Belsen am 30. November 1952. Vehement wehrte sich der erste deutsche Bundespräsident gegen jede Geschichtsverdrängung, als könne man sich nun in den Jahren des Wiederaufbaus durch einen Schlussstrich von der Nazidiktatur abgrenzen. Heuss mochte aber nicht von einer "Kollektivschuld" aller Deutschen sprechen. Stattdessen prägte er den Begriff der "Kollektivscham".
    "Und dies ist unsere Scham, dass sich solches im Raume der Volksgeschichte vollzog, aus der Lessing und Kant, Goethe und Schiller in das Weltbewusstsein traten. Diese Scham nimmt uns niemand ab."
    Für den katholischen Theologen Karl-Josef Kuschel ist Theodor Heuss damit bis heute richtungsweisend. Nach der Shoah kann bis heute kein Deutscher sagen, es ginge ihn nichts an. Kuschel liest aus seinem Buch, das er über Heuss und sein Verhältnis zum Judentum geschrieben hat:
    "Heuss fordert einen schweren Weg der Selbstreinigung, den wir als Deutsche zu gehen hätten. Wenn man in ein Volk hineingeboren ist, kann man ihn im März 1946 in einer Berliner Rede sagen hören, in seiner geistigen Luft aufwuchs, von seiner Geschichte weiß, seine Landschaften kennt, dann liebt man dieses Volk. So entstand das Bewusstsein, dass wir stolz waren, Deutsche zu sein. Und das war das Scheußlichste und Schrecklichste, was uns der Nationalsozialismus antat, das er uns zwang, uns schämen zu müssen, Deutsche zu sein."
    Heuss wollte aktive Wiedergutmachung
    Früh setzte Heuss sich für eine auch finanzielle Wiedergutmachung gegenüber Israel ein. Als erster hoher Repräsentant Deutschlands gratulierte er den jüdischen Gemeinden zu Rosch Ha-Schana. Mehr als nur eine Geste. Der liberale Politiker und Publizist pflegte Zeit seines Lebens gute Kontakte zu deutschen Juden, etwa zu dem großen Rabbiner Leo Baeck. Heuss unterstützte die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit ausdrücklich und war Schirmherr der Woche der Brüderlichkeit. Vor allem wollte er, dass gerade auch die Kirchen einsahen, dass der politische Antisemitismus nur auf Grundlage des christlichen Antijudaismus möglich gewesen war. Heuss wollte eine aktive Wiedergutmachung.
    "Bundeskanzler und Bundespräsident haben sich regelmäßig getroffen, also die Vier-Augen-Gespräche, und er sagt, er finde, dass es eine Verantwortung gibt für die geschändeten jüdischen Gotteshäuser einzustehen und er denke an die Wormser Synagoge. Und das sei doch die Aufgabe der christlichen Kirchen. Und er wolle mit Dibelius und dem damaligen Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz Kardinal Frings darüber reden. Die Wormser Synagoge ist doch nicht irgendeine, das ist die älteste Synagoge in Deutschland seit 1034 gibt es die und wird im Judentum der ganzen Welt wie ein Heiligtum verehrt. Weil Raschi dort gelehrt hat, Raschi, der größte Talmud-Kommentator. Und Heuss hat genau das gespürt, da müssen wir was tun. Die Kirchen haben nichts getan. Von einem Engagement der christlichen Kirchen für den Aufbau der Wormser Synagoge kein Wort. Da hab ich auch gedacht: Verdammt noch mal, ein Politiker muss kommen, ein homo politicus und muss das Geschäft der Kirchen betreiben, die nicht von sich aus auf die Idee gekommen sind, dafür was zu tun. Ja, das ist Theodor Heuss."
    "Heuss ist nicht zu idealisieren"
    Erst Jahrzehnte später rangen sich die Evangelische wie auch die Römisch-katholische Kirche durch, ihre theologisch schuldhafte Verstrickung an der Schoah zu bekennen. Bei all dem rang Heuss sicherlich auch mit eigenen schwerwiegenden Fehlentscheidungen. 1933 hatte er mit seiner fünfköpfigen DDP-Fraktion, also der Fraktion der Deutschen Demokratischen Partei, im Reichstag dem Ermächtigungsgesetz der Nazis zugestimmt. Und Heuss konnte mitunter sehr scharfzüngig gegenüber Juden sein.
    "Heuss ist nicht zu idealisieren. Er ging einen vielschichtigen mitunter auch widersprüchlichen Lebensweg in den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. So gibt es aufseiten von Heuss vor und nach 1933 auch polemische Töne gegen ein sogenanntes 'entwurzeltes jüdisches Literatentum', dessen Infragestellung der Republik von Weimar entfremdete. Antisemitische Vorurteile können bei Heuss dann durchbrechen, wenn er sich von Publizisten jüdischer Herkunft wie Kurt Tucholsky oder Karl von Ossietzky distanziert."
    Heuss unterschied in den 1930er-Jahren zwischen einem "wurzellosen kommunistischen Ost-Judentum" und einem zivilisierten westlichen Hochkulturjudentum.
    "Viele jüdische Freunde besaß Heuss auch schon vor 1933 und ihnen verhält er sich auch in finsterer Zeit solidarisch. Ich liebe jetzt keine Distanzierung zu den Juden, mit denen ich befreundet bin, wird er 1933 schreiben. Aber diese Freunde gehören ausschließlich zur bürgerlichen oder gelehrten Judenschaft. Zur eingedeutschten Judenheit, wie der damalige Sprachgebrauch formulieren konnte. Die Forschung hat denn auch nicht gezögert, Heuss bei entsprechenden Äußerungen eine bedenkliche Nähe zu einem sogenannten kulturellen Antisemitismus zu attestieren. Ja – einen zutiefst konservativ bürgerlichen Instinkt, den er mit der Minderheit des nicht antisemitisch orientierten protestantischen Bürgertums geteilt habe. Dass man vor allem jene deutsche Judenheit respektiert, die sich assimilierte, zum selbstständigen Teil der deutschen Gesellschaft wurde. Die es zu akademischen Status und zu wirtschaftlichen Erfolg brachte und zur deutschen Bourgeoisie gehört. Wenn Heuss vom Judentum spricht, dann hat er das bürgerlich-etablierte und gesellschaftlich integrierte Judentum vor Augen, jüdische Zeitgenossen mit Stellung und Leistung in Armee, Parteien, Medien, Medizin, Wissenschaft, Anwaltskanzleien und Wirtschaft. Ihnen hält er die Treue."
    Bundespräsident a. D. verfolgt weiter die deutsche Geschichte
    Doch dies alles mindert nicht das Bild eines überragenden Staatsmannes. Nach zehnjähriger Amtszeit reiste Heuss als Pensionär 1960 zum ersten Mal ins Heilige Land.
    "Irgendwo auf der Reise durch das Land trifft er auf einen Frisör und wundert sich, wie der harmlos heitere Mann Deutsch spricht, wenn auch mit einem etwas fremden Akzent. Heuss spricht ihn an, jovial, er sei nicht aus Deutschland, aber spreche gut Deutsch. Und der Mann antwortet: In zwei Konzentrationslagern gelernt! Heuss verschlägt es für einen Moment die Sprache. Deutschstunde im Konzentrationslager!"
    Noch bestehen keine diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Einfach so als Tourist kann Theodor Heuss sich aber nicht bewegen. Den Bundespräsidenten a. D. verfolgt die deutsche Geschichte auf Schritt und Tritt.
    "Und während er noch durchs Land reist, die Städte Akko und Cäsarea am Mittelmeer und Ministerpräsident Ben Gurion bei einem Essen trifft, platzt die Nachricht herein: Adolf Eichmann geschnappt! Der israelische Geheimdienst hat den Organisator von Hitlers Endlösung der Judenfrage in Buenos Aires in seine Gewalt gebracht. Es ist der 11. Mai 1960."
    Bewegende Rede zu Shavej Zion
    Dabei sollte es auch eine Privatreise werden. Der Schwabe Heuss besuchte einen Tag später am 12. Mai das schwäbisch-jüdische Dorf Shavej Zion bei Naharija an der nördlichen Mittelmeerküste. In den 1930er Jahren flüchteten sich Dutzende jüdischer Bauern aus Rexingen hierher. Ermöglicht hatte dies Otto Hirsch, ein enger Freund von Theodor Heuss."
    "Otto Hirsch war ja in der Reichsvertretung der Juden neben Leo Baeck der führende Mann und hat dafür gesorgt, dass die Rexinger ausreisen konnten. 41 schwäbische Bauern wollen nach Palästina ausreisen! Das war damals britisches Mandatsgebiet! Die Engländer haben bestenfalls Individuen rein gelassen, aber dich nicht ne ganze Gruppe! Und das ist eben im Falle der Rexinger Juden gelungen auch mithilfe von Dr. Otto Hirsch. Die Rexinger haben ihm dann in Shavej Zion ein Denkmal gesetzt, ihm und seiner Frau, und Heuss hält eine ganz bewegende Rede, wo er wirklich seine Liebe zu diesem Mann zum Ausdruck gebracht und sein Entsetzen, einer der Besten, wird in Mauthausen liquidiert."
    Eine von vielen ergreifenden und bis heute kaum bekannten Geschichten, die Karl-Josef Kuschel zusammengetragen hat. Das Verdienst von Theodor Heuss ist kaum zu gering zu erachten. Heuss war einer der ersten überhaupt, die nach 1945 dauerhaft das Eis brachen, zwischen Juden und Deutschen, aber eben auch zwischen der Bundesrepublik und dem Staat Israel.