Donnerstag, 25. April 2024

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Thomas Clark: Der Filmpate. Der Fall des Leo Kirch.

Zur letzten Rezension unserer heutigen Sendung: Von einer der größten Wirtschaftspleiten der Nachkriegszeit ist vor allem eines im Gedächtnis geblieben - ein Milliardenberg an Schulden. Auch der fleißigste Medienkonsument dürfte bei den Details der Pleite der Kirch-Gruppe, die bis heute noch nicht abgewickelt ist, bald den Überblick verloren haben. Vierzig-Prozent-Anteil hier, Verkaufsoptionen und Pfandrechte dort: die undurchsichtige Struktur des Konzerns samt seiner Geschäftsbeziehungen stellt selbst Brancheninsider vor handfeste Probleme. Thomas Clark, Medienredakteur der Financial Times Deutschland, hat versucht, Licht ins Dunkel zur bringen und das Leben des Leo Kirch nachzuzeichnen. Brigitte Baetz stellt Ihnen das bei Hoffmann & Campe erschienene Buch vor:

Brigitte Baetz | 25.11.2002
    Es ist Freitag, der 14. Dezember 2001. Die Kirch-Gruppe feiert heute Weihnachten, nur einem ist nicht zum Feiern zumute. Seit Stunden führt er im zweiten Stock ein Telefonat nach dem anderen. Gut, dass ihn seine Gesprächspartner nicht sehen können. Seine Haare stehen etwas wirr ab und wären modisch geschnitten, lebten wir noch in den fünfziger Jahren. Er trägt eine blaue Strickjacke und orthopädische Schlappen und sieht aus wie sein eigener Hausmeister. Vor einigen Monaten musste er sich einer schweren Fußoperation unterziehen. Sein Herz funktioniert nur noch dank dreier Bypässe. Irgendetwas stimmt auch mit seinen Augen nicht, die sehen so verquollen aus. Kein Wunder, Leo Kirch ist fast blind. Seit Jahren kann er keine Dokumente mehr lesen. Deshalb ist sein Arbeitsplatz so leer. Auf seinem Schreibtisch liegen keine Memos, keine Vertragsentwürfe, auch Berichte sucht man vergebens. Ein Tonbandgerät und einige Kassetten ersetzen den Papierkram, eine Flasche kohlensäurearmes Mineralwasser hilft die Stimmbänder schmieren für einen weiteren nervenaufreibenden Telefonmarathon.

    Der Einsatz wird sich nicht lohnen. Nur ein knappes Vierteljahr später meldet der erste Teilbereich des Konglomerats, das der Einfachheit halber Kirch-Gruppe genannt wird, Insolvenz an. Wochen, ja Monate vorher wird in der Öffentlichkeit über den geheimnisvollen Medienunternehmer Leo Kirch spekuliert, einem 75-jährigen, der kaum je an die Öffentlichkeit geht und dem gerade deswegen schier unglaubliche unternehmerische Fähigkeiten zugesprochen werden. Totgesagte leben länger, sagen manche. Was wiegen die Unsummen, die er für Sportübertragungen und Filmrechte bezahlen muss, gegen das sagenumwobene Filmarchiv, das er in München unterhält, das defizitäre Abo-Fernsehen Premiere gegen seine im Kern gesunden Sender SAT 1, Pro Sieben und Kabel 1? Und wirklich kalkulierte Leo Kirch schon oft in seinem Leben als Unternehmer hart an der Grenze zum finanziellen Abgrund. Immer mit Erfolg, durch eine unglaubliche Kaltblütigkeit. Der Aufstieg des Leo Kirch vom Handwerkersohn aus dem Fränkischen zum Filmhändler und Fernsehveranstalter mit Verlegerambitionen ist nicht nur mit dem unternehmerischen Weitblick zu erklären, den er mit vielen aus der Nachkriegsgeneration teilt. Es ist vor allem diese Kaltblütigkeit, die ihn auszeichnet. Sein Biograph Thomas Clark erklärt die Neigung zum Va-Banque-Spiel mit der Schockdiabetes, die der noch junge Mann erleidet, als kurz vor seiner ersten Fast-Pleite seine Frau und sein Sohn beinahe bei einer Autokarambolage ums Leben kommen.

    Als Leo Kirch von dem Unfall erfährt, steht er unter hohem beruflichen Druck. Er hat gerade den größten Filmeinkauf seines Lebens getätigt. Für sechs Millionen Mark erwarb er vom Hollywood-Studio Warner Brothers vierhundert Spielfilme. Von diesen Spielfilmen konnte er bisher nur siebzig zu Geld machen – für zwei Millionen Mark. Leo Kirch sitzt also auf vier Millionen Mark Schulden, und die ARD, damals der einzige Fernsehsender in Deutschland, hat ihm deutlich gemacht, dass sie vorerst an keinen weiteren Filmen interessiert sei. Der Jungunternehmer muss zittern. Wie lange wird es dauern, bis die ARD ihre Meinung ändert? Können die Gläubigerbanken so lange hingehalten werden? Die nervliche Anspannung ist enorm. Ausgerechnet in dieser beruflich heiklen Lage verunglücken seine Frau und sein Sohn. Ruth Kirch liegt monatelang im Krankenhaus. Nach außen hin lässt sich Leo Kirch von dem tiefen Schock, den er dabei erleidet, und von der Angst, seine geliebte Frau zu verlieren, nichts anmerken. Sein jüngerer Bruder Franz, zu dem er eigentlich ein gutes Verhältnis hat, erfährt erst nach einigen Wochen von dem tragischen Unfall – und auch das nur beiläufig. Auch sonst redet Leo Kirch über den Unfall nur dann, wenn es unvermeidbar ist. Ist so etwas normal? Für den Filmpaten schon. Von Anfang an spricht er nie über seine Gefühle, schon gar nicht über sein Leiden.

    Durch die Diabetes, die Leo Kirch inzwischen fast hat erblinden lassen, lebt der Unternehmer ständig mit dem Tod im Nacken. Für so jemanden, so die These von Thomas Clark, ist Geld an sich ohnehin kein Wert mehr. Und trotzdem widmet sich Kirch von früh bis spät fast ausschließlich dem Geschäft – mit Ausnahme des sonntäglichen Gottesdienstes. Übrigens gaben die ARD-Intendanten damals nach und verhalfen dadurch Kirch zum Durchbruch auf dem Filmmarkt.

    Erst durch diesen Großeinkauf kann sich Kirch als Zwischenhändler von Filmen ernsthaft und langfristig etablieren. Hätte Leo Kirch damals nur jene siebzig Filme gekauft, die die ARD von Anfang an wollte, wären sowohl die Intendanten von Deutschlands damals einziger Fernsehanstalt als auch die Amerikaner schnell darauf gekommen, dass sie einen Kirch eigentlich gar nicht brauchen. Wozu Filme über einen Zwischenhändler einkaufen, wenn der ohnehin nur jene Menge kauft, die die öffentlich-rechtliche Anstalt zu einem bestimmten Zeitpunkt braucht. Dann hätte die ARD ja gleich selbst in Hollywood einkaufen können. Nur wegen der Kurzsichtigkeit der ARD-Intendanten kann Kirch seine unternehmerische Vision entfalten. Die Intendanten können sich 1959 einfach nicht vorstellen, dass sie in einigen Jahren nach immer mehr und mehr Kinofilmen gieren werden. Damals denken sie noch, dass sie das gesamte Programm für alle Ewigkeit weitgehend selbst bestücken können.

    Und die Intendanten wissen auch noch nicht, dass schon 1963 mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen ein neuer Mitbewerber um Filme entstehen wird, geschweige denn, dass in den 80er Jahren kommerzielle Konkurrenten auftauchen werden. Von Anfang an wieder mit dabei: Leo Kirch – und diesmal nicht mehr nur als Filmhändler, sondern, zuerst noch getarnt, als Mitveranstalter. Bald beliefert er alle – auch sich selbst – und verdient dabei doppelt. Hätte er nicht bald das digitale Fernsehen für sich entdeckt und mit dem Sender Premiere vollständig und mit allen finanziellen Mitteln auf die Karte Abonnementfernsehen gesetzt, er wäre bis heute einer der wichtigsten Männer des Gewerbes. Doch Kirch spielt sein Spiel mit hohem Einsatz und mit der Lust am Austricksen der Gegner. Dabei hilft ihm auch die Loyalität seiner Mitarbeiter, denen er ein Übermaß an Vertrauen entgegenbringt – sowohl menschlich wie auch im Bezug auf ihre Fähigkeiten. Der am meisten dämonisierte deutsche Medienunternehmer seit Axel Cäsar Springer führt seine Geschäfte wie ein mittelständischer Firmenpatriarch. Seine Mitarbeiter müssen keine Assessment-Center durchlaufen, keine förmlichen Bewerbungsverfahren durchlaufen. Seine persönliche Sympathie genügt, und sie tun alles, um sich ihr würdig zu erweisen.

    Grenzenlose Loyalität – das ist ein Schlüsselprinzip für Leo Kirch. Solange ihm ein Mitarbeiter treu ist, nach bestem Wissen und Gewissen arbeitet, in guten wie in schlechten Zeiten, wird ihm bei der Kirch Gruppe ein langes Leben und ein lukratives Einkommen bis zur Rente vergönnt sein. Es mag sein, dass er nach einem schweren fachlichen Versagen auf einen Posten versetzt wird, wo er keinen Schaden anrichten kann, doch Kirch wird ihn niemals vor die Tür setzen. "Wer bei Kirch angestellt war und dort dem Kreis der Anerkannten angehörte – das war eine Lebensversicherung", so der alte Freund und langjährige Berater von Kirch, Gerd Bacher. Weil der Katholik Kirch darauf erpicht ist, dass seine Firmen-Familie eine aufeinander eingeschworene Gemeinschaft bleibt, hasst er Abgänge. Herbert Kloiber, der sechs Jahre lang als Geschäftsführer von Kirch arbeitete, dann aber eigene Wege ging, erzählt immer wieder gern von der Reaktion des Filmpaten auf seinen unerwarteten Abschied: "Er hat den Briefumschlag mit meiner Kündigung einfach zum Fenster hinausgeworfen – ungeöffnet.

    Das Erfolgsgeheimnis des Leo Kirch: Loyalität nach innen, Verschwiegenheit nach außen. Kirch, der sich im Umgang mit Mitarbeitern und Geschäftsleuten durch enormen Charme auszeichnete, betrieb fast keine Öffentlichkeitsarbeit - anders als seine Kollegen, die in erster Linie mit ihrer eigenen Selbstinszenierung beschäftigt sind und deren Eitelkeiten der durch und durch uneitle Kirch geschickt auszunutzen verstand. Seit seinen Übernahmeversuchen beim Axel Springer Verlag und durch seine teilweise getarnten Fernsehbeteiligungen hatte er seit den achtziger Jahren den Ruf eines Dunkelmannes erworben, der nie scheiterte. In welcher Klemme der Medienunternehmer auch stecken mochte, die Fachwelt traute ihm immer wieder den Befreiungsschlag zu, und er sich selbst wohl auch - bis zum unabwendbaren Ende. Thomas Clark ist es gelungen, das "Familienunternehmen Kirch" mit allen seinen Besonderheiten transparent zu machen. Ein wenig mehr versteht man nun, wieso Banker Millionenbeträge locker machten, damit diese in völlig unabgesicherten Geschäften verloren gehen konnten, warum Spitzenpolitiker sich für den Mann aus Bayern einsetzten und warum ein Manager wie Dieter Hahn für Kirch die halsbrecherischsten Deals abschlossen. Ein unterhaltsames Stück Mediengeschichte, die aufgrund des einmaligen Charakters ihres Protagonisten wohl auch einmalig bleiben wird.

    Brigitte Baetz über Thomas Clark: Der Filmpate. Der Fall des Leo Kirch. Hoffmann & Campe Hamburg, 287 Seiten, Kostenpunkt: 21 Euro und 90 Cent.