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Thomas Melle
Kein Autor für leichte Lösungen

Thomas Melles letzter Roman "Sickster" sorgte für Furore, sein neues Werk "3.000 Euro" kommt sachlicher daher, sagt der Autor selbst. Die ebenso zarte wie verquere Liebesgeschichte zwischen einer Supermarktkassiererin und einem gescheiterten Jurastudenten schaffte es sogar auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Von Katrin Hillgruber | 06.11.2014
    Der Autor Thomas Melle
    Der Autor Thomas Melle (dpa/picture alliance/Arne Dedert)
    Ein Kuss droht alt zu werden und wird daher einvernehmlich beendet, zwei Körper könnten einander ganz vage interessieren: Thomas Melle findet neue, überraschende Vokabeln für das, was man vorsichtig einen Liebesroman nennen könnte. In seinem dritten Buch nach dem Erzählungsband "Raumforderung" und dem hochtourigen Berlin-Roman "Sickster" schildert er nun die versuchte Annäherung zweier sozial und psychisch Versehrter und wie sie sich schließlich verfehlen - oder doch nicht?
    "Ich wollte eben keine Romeo- und Julia-Geschichte oder Liebes-Schmonzette schreiben, sondern eine Annäherung, die in Momenten in eine Art von Liebe umkippt oder wo es Momente gibt, wo sie es schaffen, einander nahe zu sein, und dann auch wieder eine Entfremdung oder eine Wahrnehmung voneinander, die halt nicht so ganz klappt. Also es ist dieses Spiel, dieses Verhältnis und dieses ständige Sich-Wandeln der gegenseitigen Wahrnehmung."
    Dreh- und Angelpunkt sind die prosaisch titelgebenden 3.000 Euro - der gescheiterte Jurastudent Anton schuldet eben diese Summe der Deutschen Bank, die einen Rechtsstreit gegen ihn angezettelt hat. Zwei arrivierte ehemalige Kommilitonen wollen ihn, der längst unter ihr Niveau gerutscht ist, vertreten, was nicht ohne Konflikte verläuft. 3.000 Euro wiederum erwartet die Supermarkt-Kassiererin und alleinerziehende Mutter Denise als Honorar für ihre Mitwirkung an einem Internetporno, die sie längst bereut. Sie hat Angst, an der Kasse von Kunden wiedererkannt zu werden. Sie selbst dagegen soll laut Anweisung die Kundschaft tunlichst nicht mustern, mögen ihr noch so viele Krähenfüße und Elefantenhaut-Dekolletés ins Auge springen oder auf dem Band eine sogenannte "Dicke-Hose-Pizza mit Krabben" auf sie zufahren. Anton findet Denise "auf prollige Weise sehr hübsch", wie es heißt, sie sieht in ihm einen verbummelten Studenten auf der Abwärtsspirale zum Penner. Auf reizvolle Weise spiegeln sich ihre Blicke und Einschätzungen ineinander.
    "Das war mein Plan, ja, das ist so zu mir gekommen. Manche Themen sucht man trial-and-error-mäßig und verwirft man wieder, und plötzlich stand ich da in einem Supermarkt vor einer Kassiererin und dachte, das ist doch eigentlich eine Figur, die ich näher kennenlernen und beschreiben möchte."
    Der Erzähler sieht genau hin
    Der 1975 in Bonn geborene Thomas Melle, der schon lange in Berlin lebt, ist ein eminent visueller Erzähler, beginnend mit den Signalfarben Gelb für billige und Rot für höherwertige Supermärkte. Sein ausgeprägter Sinn für Farben und Formen, für Oberflächenstrukturen und die spezifischen "Benutzeroberflächen" der Protagonisten prägte bereits den Prosaband "Raumforderung" aus dem Jahr 2007. Dieser begeisterte durch schiere, emphatische Lust an der Sprache, durch die vielen Brüche und nicht immer appetitlichen Überraschungen. Inwiefern hat sich seine Schreibweise seitdem gewandelt?
    "Das ist eine Entwicklung, die ich durchmache. Ich habe mich früher noch stärker ausprobiert, manchmal hat der Erzähler oder ich als Erzähler und der installierte Erzähler sich nicht mehr ganz im Griff gehabt und das aber auch forciert sozusagen, dieses Loslassen und dieses aus der Reihe springen und Wegstürzen und Hochstürmen, und das war auch in "Sickster" da, meinem ersten Roman, so, dass es da Stellen gab, wo der Erzähler selbst nicht mehr kontrollierbar war. Ich nenne das jetzt eine neue Sachlichkeit, die ich gerade einschlage mit dem Buch, mal sehen, wie es beim nächsten wird, aber der Erzähler ist diesmal sehr souverän und hat seine Mittel unter Kontrolle und erzählt auch ein bisschen kühler, wenn auch nicht emotionsloser, aber kontrollierter, und er weiß immer, was er tut."
    Anton besucht seine Mutter, in deren Wohnung sich der staubbedeckte Krimskrams häuft. Ein gehaltvolles Gespräch ist kaum möglich, da sie sich nicht mehr konzentrieren kann. Durch die Therapie mit Elektroschocks gilt ihre Depression als geheilt, doch ihr geht es nach wie vor schlecht. Die Gesellschaft aber hat kein Interesse an Menschen, die in der sogenannten Neuronenlotterie Pech hatten. Auch in diesem Fall sieht der Erzähler genau hin:
    "Ja, oder halt oftmals auch das Klischee von Genie und Wahnsinn, das was dann so zusammengeführt wird als von Hollywood kommend, aber auch schon als alter Topos der ganzen Literaturgeschichte: Wer sozusagen wahnsinnig ist und nicht genial, ist nicht interessant, und das würde ich nicht so sehen."
    Anton wird als Selbstmordkandidat gezeichnet, mit sentimentalen Anklängen an Fassbinder-Melodramen wie "Faustrecht der Freiheit" oder den unglücklich verliebten Transsexuellen in "Ein Jahr mit 13 Monden". Jedenfalls ist die Szenerie in Melles namenloser deutscher Großstadt ähnlich deterministisch düster wie seinerzeit Fassbinders Frankfurt: Entweder wandert Anton ziellos umher, weil er es in seinem Wohnheim nicht mehr aushält, oder er schläft möglichst ausgedehnt; Psychologen sprechen in so einem Fall von passiver Konfliktvermeidung.
    "Ich habe mir das so gedacht, dass der unheimlich gerne dämmert, also diesen Zwischenzustand zwischen Bewusstsein, wo ihm alles bewusst ist und Schlafen auskostet, wo halt Sachen ganz ungenau, unscharf werden und vielleicht auch dadurch wieder genießbar, vielleicht passive Konfliktvermeidung."
    "Dem bürgerlichen Familienroman etwas entgegensetzen"
    Denise hingegen sieht leidenschaftlich fern und freut sich dabei über jene, die in Scripted-Reality-Sendungen gedemütigt werden. Auch sie wird mit ihrer Tochter, der eine "Wahrnehmungsstörung" attestiert wurde, von der angeblich am Kindeswohl interessierten Gesellschaft alleingelassen. So gerät die Einsamkeit der beiden Außenseiterfiguren zum verbindenden Moment in einem gleißend bunten Jetzt, das in seiner Hybris vom Verfall bedroht ist.
    "Es ist mir auch ein Anliegen, Leute darzustellen, die an der Grenze sich befinden, an der Grenze zu den sogenannten Unterschichten oder wie auch immer oder diese Grenze schon überschritten haben, ob man nun wie Anton anscheinend aus dem bürgerlichen Kontext kommt, Jura studiert hat und dann halt völlig absinkt. Oder wie Denise aus einem nun eher proletarischeren Kontext kommt und da halt dann auch bleibt und sich die Sehnsüchte, die Träume daraus erst ergeben. Ich würde sagen, ja, sozialkritisch auf jeden Fall. Gut, ich dachte mir auch, als ich im Supermarkt die Kassiererin sah oder die Leute dort, Mensch, hier ist doch auch ein Stoff, ich sehe es doch, und ich kann mich da sozusagen hineinversetzen, weil ich auch verschiedene Gesellschaftsschichten selber kenne, wieso es nicht versuchen, wieso nicht sozusagen dem bürgerlichen Familienroman etwas entgegensetzen."
    Mit seinen treffenden Gegenwartsbeobachtungen erweist sich Melle als lakonischer Desillusionist in der Nachfolge eines Rolf Dieter Brinkmann, an dem er nach eigenen Angaben dessen Gegenwärtigkeit und gewisse Härte schätzt. Der Roman "3.000 Euro" lebt von seiner vibrierenden Binnenspannung. Diese lässt immer wieder fünkchenweise Hoffnung aufkommen und könnte in eine Art Happy End münden. Denn Denise könnte Anton das Geld geben, aber wird sie es nach ihrer gemeinsamen Nacht auch wirklich tun? Zum Glück ist Thomas Melle alles andere als ein Autor für einfache Lösungen.
    Thomas Melle: 3.000 Euro. Roman. Rowohlt Berlin Verlag 2014. 208 Seiten, 18,95 Euro.