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Thriller
Die Wichtigkeit des Klischees

Die Leiche eines lange vermissten Mädchens im Garten eines berühmten Schriftstellers, ein Autor mit Schreibblockade, ein kleiner Ort in den USA, in dem keiner ganz koscher ist: Der junge Joël Dicker, 1985 in Genf geboren, hat einen abgründigen und intelligent verschachtelten Thriller geschrieben.

Von Peter Urban-Halle | 13.01.2014
    Portraitaufnahme des Autors Joël Dicker neben einem Bücherstapel.
    Dem jungen Autor Joël Dicker ist ein packender Roman gelungen. (picture alliance / dpa)
    Am 30. August 1975 verschwindet in dem kleinen Städtchen Aurora im US-Bundesstaat New Hampshire ein 15-jähriges Mädchen. Die Pfarrerstochter Nola Kellergan war bei allen Bewohnern des Ortes beliebt, sie war hübsch und aufgeweckt, freundlich und fleißig. Eine ältere Dame beobachtet, wie das junge Mädchen im nahen Wald von einem Mann verfolgt wird. Ihr Anruf bei der Polizei ist der Auftakt zu einem abgründigen und intelligent verschachtelten Thriller, der immer neue Perspektiven, Tathergänge und Überraschungen aller Art bereithält.
    Autor des Romans ist der heute 28-jährige Joël Dicker aus Genf, seine Muttersprache ist Französisch, da liegt es nicht gerade auf der Hand, einen amerikanischen Roman zu schreiben. Aber ein Teil seiner Verwandtschaft lebt in den USA, das dortige Leben ist ihm also vertraut. Trotzdem stellt sich beim Lesen die Frage, ob er nicht eine Parodie auf den amerikanischen Roman schreiben wollte. Joël Dicker:
    "Ich wollte in erster Linie einen französischen Roman schreiben, der in Amerika spielt. Aber es bleibt ein Roman, der auf Französisch, also meiner Sprache, geschrieben ist. Mit der Herausforderung, die andere Sprache sozusagen in die eigene Sprache zu überführen. (…) Stimmt, meine Generation parodiert gerne, wir leben in einer schwierigen Epoche; die Parodie ist in aller Munde. (…) Es gibt im Roman auch viele parodistische Elemente, aber das Buch an sich, das Buch als Ganzes ist keine Parodie."
    Erzähler ist der 30-jährige Marcus Goldman aus New York, ein erfolgreicher Autor mit Schreibkrise, der im Sommer 2008 seinem ehemaligen, fast 40 Jahre älteren Literaturprofessor Harry Quebert in New Hampshire zur Hilfe eilt. In Queberts Garten wurde nämlich Nolas Leiche entdeckt, es kommt heraus, dass er damals, im Sommer 1975, mit der minderjährigen Nola ein intensives Verhältnis hatte. Die kleine Stadt hat ihren Skandal.
    Aurora bietet die Stephen-King-Kulisse par excellence, es ist ein friedlicher Ort mit netten Einfamilienhäusern und gepflegten Gärten, mit Wäldern, Strand und lauschigen Seen. Vor dieser Kulisse lässt Joël Dicker ein ganzes Panorama amerikanischer Kleinstadttypen aufmarschieren, ein gutes Dutzend verschiedenster Charaktere, der junge Autor beschreibt sie famos, fast routiniert. Allen voran natürlich die Hauptfiguren: den kriselnden, aber hartnäckigen Erzähler Marcus Goldman; den intellektuellen, melancholischen Harry Quebert und die jugendlich-frische und gleichzeitig verantwortungsbewusste Nola.
    Ein Buch über Klischees
    Deutlich ist diese Nola mit Nabokovs weltbekannter Lolita verwandt. Und ebenso deutlich ist der Einfluss des amerikanischen Großschriftstellers Philip Roth und seinem Roman "Der menschliche Makel". Joël Dickers "Wahrheit über den Fall Harry Quebert" ist ein Buch mit vielen Klischees. Ist es auch ein Buch über die Klischees?
    "Ja sicher, wir sind in einer Geschichte über eine Geschichte, in einem Buch über Bücher, in dem ich auch meine eigenen Bücher erzähle, meine Lektüren, in denen ich mich auf die Konstruktion der Bücher beziehe und auf die Konstruktion unserer Bilder, die in erster Linie durch Klischees gespeist werden. „Klischee“ ist natürlich ein Schimpfwort, aber ich will auch die Wichtigkeit des Klischees zeigen, wohin es uns in einer Geschichte führen kann (…) Bei der Vorstellung eines bestimmten Begriffs wie „Drache“ zum Beispiel bemühen wir nämlich unsere allgemeine Kultur, die eine Kultur der Klischees ist, die man uns beigebracht hat, die wir reproduzieren. (…) Wir sind also alle in diesem Schema verfangen, Bilder zu reproduzieren. Und das hat mich auch interessiert."
    Wie viel Spaß Dicker an seinem Buch hatte, sieht man vor allem an den vor Witz sprühenden Dialogen zwischen Goldman und seiner überkandidelten jüdischen Mom und dem trocken-ironischen, schwarzen Sergeant. Die nötige Würze geben gekonnte Perspektivwechsel, ungeahnte Entwicklungen, verblüffende Wendungen und Beziehungen. Am Schluss fällt der Roman in einen wilden Galopp, überschlägt sich mehrere Male und findet doch ein glaubwürdiges Ende. Aber das Reizvollste sind die verschiedenen Ebenen des Romans, das ständige Schweben zwischen Tatsachen und Fantasie, die doppelten Spiegelungen des echten Autors und der beiden Autoren im Buch. Wie man später feststellt, gibt es sogar noch einen dritten Autor, insgesamt haben wir es also mit vier Büchern zu tun. Dass man trotzdem den Überblick behält, liegt an Dickers pädagogisch anmutender Manier: Regelmäßig wiederholt er Orte, Zeiten, Namen, Berufe, sodass der Leser stets am Ball bleibt.
    Gleichzeitig ist jedes Kapitel ein weiterer Schritt, der uns der Vollendung eines gelungenen Romans näher bringt. Der Schüler Goldman fragt seinen Lehrer nach literarischen Tipps und Tricks – es sind 31: das erste Kapitel sei das "entscheidende", das letzte solle "immer das schönste" sein. Der Aufbau hat etwas Ironisches. Zum einen wird in diesem amerikanischen Roman eine Art Regelwerk des Creative Writing offengelegt. Damit will der junge Goldman den Roman der Romane verfassen. Es soll ein – auch im Wortsinn – regelrechter Bestseller entstehen, was ihm ja auch gelingt. Doppelt ironisch ist, dass der echte Autor Joël Dicker damit sicher auch geliebäugelt hat, ohne freilich erwarten zu dürfen, dass er mit der "Wahrheit über den Fall Harry Quebert" tatsächlich einen Bestseller schreibt. Einen Bestseller, der so vielschichtig und packend ist, dass wir ihm auch bei uns viele Leser wünschen.
    Joël Dicker: "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert."
    Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg.
    Piper Verlag, 731 Seiten, 23 Euro.