Mittwoch, 24. April 2024

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Thüringen und Bayern
Wo einst eine Grenze war

Keine Stadt in der DDR lag der innerdeutschen Grenze so nah wie Sonneberg. Ins bayerische Neustadt sind es nur zwei Kilometer. Seit 1990 liegt Sonneberg wieder mitten in Deutschland und hat seine Chancen genutzt. Die Verletzungen aus Diktatur und Transformation wirken aber weiter, auch über Generationen hinweg.

Von Henry Bernhard und Michael Watzke | 02.08.2021
Am Historischen Denkmal des ehemaligen Grenzübertritts "Gebrannte Brücke" steht ein Schild, das auf die ehemalige Deutsch-Deutsche Grenze hinweist. Die Nachbarstädte Neustadt bei Coburg und Sonneberg waren 40 Jahre durch die innerdeutsche Grenze getrennt.
Die Nachbarstädte Neustadt bei Coburg und Sonneberg waren durch die innerdeutsche Grenze Jahrzehnte getrennt. Jetzt wächst die Region wieder zusammen. Besser als gedacht. (dpa / picture alliance / Nicolas Armer)
Heiko Voigt steigt voran, seine Pressesprecherin hinterher. Die Treppen hoch, die auf den Rathausturm von Sonneberg führen. Heiko Voigt ist der Bürgermeister von Sonneberg. Ein stolzer Bürgermeister, der auf die noch originalen und sehr eleganten schmalen Fenster von 1927 im Turm verweist: "Es ist halt jetzt kein einfaches Fensterglas, sondern das ist wirklich … Ich weiß gar nicht, wie das heißt. Also das ist so richtig ist künstlerisches Glas, was da drin ist. Jetzt können Sie sich mal vorstellen, wenn man die ganzen Fenster neu machen mit dem Originalglas drin, da kostet der Turm schon ein Vermögen. Also haben wir erst mal in die Computer-Infrastruktur investiert. Und das machen wir dann später."
Graue Kästen von der Telekom, dicke Datenkabel streuen Störgeräusche ins Aufnahmegerät. Sonneberg hat flächendeckend kostenloses WLAN für seine Bürger. "Ein Tribut an die neue Zeit. Dinger, die nicht nach unten strahlen - habe ich extra gefragt -, die gehen nach vorne."
Der Blick vom Turm: Im Norden der satt grüne Höhenzug des Thüringer Waldes, darunter erstreckt sich die Innenstadt. Das größte zusammenhängende Gründerzeitensemble in Thüringen, erklärt Voigt, der studierter Architekt ist: "Und wenn Sie durch die Straßen durchgehen, das war damals richtig fortschrittlicher Städtebau. Da haben die Stadtplaner richtig Lineal angelegt, haben einen ein rechteckiges Straßenraster darübergelegt wie in Amerika. Wir sagen, die Amerikaner haben es bei uns abgeguckt. Aber stimmt nicht ganz. In Amerika, war es, glaube ich, eher da. Und wir profitieren heute noch von der weitsichtigen Stadtplanung damals."

Bis 1945 das weltweit größte Zentrum der Spielwarenindustrie

Sonneberg war bis 1945 das weltweit größte Zentrum der Spielwarenindustrie. Mit Zulieferern in der ganzen Region, egal, ob Bayern oder Thüringen. Sonneberg wurde dadurch reich; üppige Fabrikantenvillen, das Art Déco-Rathaus zeugen davon. Es gab ein Woolworth-Kaufhaus und ein amerikanisches Konsulat. Die deutsche Teilung zerschnitt sowohl die regionale Verflechtung als auch die internationale. Sonneberg wurde zu einer abgeschnittenen Stadt: Neustadt, Coburg, Kronach waren plötzlich unendlich weit weg.
"Und das hat natürlich dazu geführt, dass wir auch aus unserem Wirtschaftsraum, aus dem gewachsenen, herausgerissen wurden: Auf drei Seiten Staatsgrenze und auf der verbleibenden vierten Seite der Thüringer Wald. Und da muss ich keinem Siedlungsgeographen erklären, wie schlecht das für eine wirtschaftliche Entwicklung ist."
Dennoch: Die Spielzeugindustrie blieb bestimmend für Sonneberg. Tausende Mitarbeiter fertigten in den 80er-Jahren im Kombinat "SONNI" bis zu 6.000 Plüschtiere und 10.000 Puppen - pro Tag.
Eine Ausstellerin richtet das Mützchen einer kunstvollen Sammlerpuppe mit Porzellankopf in der Sonneberger Firma Haida. Wohl keine andere Stadt ist durch die Spielzeugherstellung so bekannt geworden wie Sonneberg. Seit dem Boom in den 1920er Jahren wurde sie auch zu Recht als Weltspielzeugstadt bezeichnet. 
Wohl keine andere Stadt ist durch die Spielzeugherstellung so bekannt geworden wie Sonneberg. (dpa / picture alliance / Stefan Thomas)
Sofie aus Sonneberg kann es nicht mehr ganz genau sagen. Irgendwo beim Marktkauf zwischen Sonneberg und Neustadt, vermutet die 26-Jährige, die gerade nach Hause fährt, im Zug von Bamberg nach Thüringen. Die Grenze ist ihr ziemlich egal: "Das ist für mich keine Landesgrenze in dem Sinn. Das ist einfach eine regionale Abgrenzung, ein Gebiet."
Nur beim Shoppen spielt es eine Rolle, ob man gerade in Bayern oder Thüringen ist. Während der Pandemie waren die Baumärkte mal auf bayerischer, meist aber auf thüringischer Seite geöffnet. "Das kennt jeder, der in Sonneberg oder Neustadt wohnt: Wenn in Thüringen Feiertag ist, und die Geschäfte sind zu, dann fährt man halt nach Neustadt. Und wenn in Bayern Feiertag ist, sind alle in Sonneberg."
Bei den Spielzeugmachern in Sonneberg
Ab 1805 entwickelte sich Sonneberg zu einem Spielzeugproduktionszentrum mit Weltgeltung. In der kleinen Stadt in Südthüringen, am Südrand des Thüringer Waldes, wird immer noch Spielzeug hergestellt.
Sofie studiert Betriebswirtschaft in Bamberg. Sie ist Zug-Pendlerin. Die Bahnverbindungen zwischen Nord-Bayern und Süd-Thüringen sind exzellent, oftmals besser als in Thüringen selbst, etwa zwischen Sonneberg und Jena. Die günstige Verkehrslage war der wichtigste Grund für Sofie, in Bayern zu studieren. "Zweitens, weil die Uni Bamberg einen sehr guten Ruf hat. Es gibt viele Sonneberger, die in Franken studieren – egal ob Nürnberg, Erlangen oder Bamberg."

Die Verbindungen sind eng

Gleichzeitig studieren viele Bayern in Jena oder Erfurt. Die Pendler-Bilanz zwischen Thüringen und Bayern ist fast ausgeglichen. Wirtschaftlich sind beide Bundesländer eng verknüpft. Ein Unternehmen wie Concept Laser, das im oberfränkischen Lichtenfels hochmoderne 3D-Drucker entwickelt, zieht seinen akademischen Nachwuchs nicht nur aus Bayreuth oder Coburg, sondern auch von der Technischen Hochschule Ilmenau. Die fränkische Metropolregion Nürnberg erstreckt sich bis nach Südthüringen und darüber hinaus.
Nun stehen wir beide, Michael Watzke und Henry Bernhard, Deutschlandradio-Korrespondenten in Bayern beziehungsweise Thüringen, auf dem Rathausturm in Sonneberg. Mit Blick nach Thüringen und nach Bayern. Je nachdem, zu welcher Seite man schaut.
"Können wir mal zur anderen Seite gucken?"
"Klar!"
"Ach so, das wollte ich noch schnell fragen: Wo ist jetzt Bayern eigentlich?"
"Da drüben, die Silhouette, das ist die Veste Coburg. Sehen Sie das, diese Zacken da auf dem Berg? Und da ist unten drunter die Stadt Coburg."
"Man sieht es auch, da ist alles weiß-blau da hinten!"
"Ja, und die Grenze, die sehen Sie jetzt nimmer, da drüben hat man sie früher mal gesehen. Da vorne hier der Berg ist der Mupperg, ist der Neustädter Hausberg. Alles, was unten drunter ist, ist Neustadt. Und mitten durch die Ebene ist früher mal die Grenze verlaufen. Das heißt, von den Wohnblocks in Wolkenrasen konnte man rüber schauen. Deswegen sind diese Wohnblocks auch nicht mit den Breitseiten nach Süden orientiert, sondern mit der Längsseite. Weil, da sind keine Fenster drin."

Die Sonneberger sollten nicht in den Westen schauen, der zum Greifen nah vor ihnen liegt. Deshalb durften sie in der DDR auch nicht mehr auf ihren Rathausturm. Keine Stadt lag der innerdeutschen Grenze so nah. Von Sonneberg nach Neustadt – die Schwesterstadt auf der bayerischen Seite – sind es nur zwei Kilometer. Und so ging alles auch ganz schnell im November 1989.
Ein junger Mann fotografiert an der ehemaligen innerdeutschen Grenze bei Görsdorf im Landkreis Sonneberg die Überreste der ehemaligen Grenzmauer im damaligen Grenzstreifen.
Ehemalige Grenzmauer im damaligen Grenzstreife im Landkreis Sonneberg (dpa / picture alliance / Stefan Thomas)
"Die Grenze ist ja in Berlin zuerst aufgemacht worden, aber dann waren wir auch schon dran. Wir waren im Prinzip die erste Region, wo die Eisenbahnverbindung wiederhergestellt wurde. Die Leute haben sich gefreut. Es sind ja sehr viele, die in Sonneberg noch ihre Häuser hatten. Als die Amerikaner hier fort sind und die Rote Armee einmarschiert ist, sind sehr viele fort. Die sind dort einfach ein paar hundert Meter weiter, entweder zu Verwandten oder einfach irgendwohin. Und als dann 89 die Grenze aufging, hat man natürlich noch menschliche Kontakte gehabt."

Die Industrie brummt im Raum Sonneberg

Den Sonnebergern kam zugute, dass sie aus Thüringer Sicht "hinterm Berg" leben und damit nicht thüringisch sprechen, sondern fränkisch.
"Ja, viele haben gemerkt, die sprechen doch genauso wie wir. Die etwas Jüngeren in Bayern haben gedacht, im Osten sprechen alle sächsisch, und sehen alle ganz komisch aus. Aber nein, man hat es eigentlich nur noch an der Kleidung erkannt und an der Sprache auf gar keinen Fall. Und das ist relativ schnell dann zusammengekommen. Und es hat in der ersten Zeit schon einige Verwerfungen gegeben. Bei uns ist er zuerst alles zusammengebrochen, unsere große SONNI, wo Tausende Menschen gearbeitet haben, da waren zum Schluss noch 15 Mann beschäftigt. Und aus dieser Transformation, die damals notwendig war, ist natürlich Neues entstanden. Natürlich hat es in der ersten Zeit Unterstützung oder Förderung gegeben für Betriebe, die in der ehemaligen DDR aufgebaut haben. Und einige hundert Meter weiter hat es die nicht gegeben. Dass da nicht alle drüber begeistert waren, das kann man sich ja vorstellen. Andererseits waren wir fast bei Null. Und die anderen, unsere Freunde auf der bayerischen Seite, die hatten natürlich schon einen gewissen Stand in den 40 Jahren sich aufgebaut."
Inzwischen brummt die Industrie im Raum Sonneberg, die Arbeitslosigkeit lag vor Corona bei drei Prozent, es herrscht Fachkräftemangel. Sonneberg ist vielfältig verflochten, vor allem nach Süden, nach Franken hin, gehört zur Europäischen Metropolregion Nürnberg - mit einer Sonderregelung als einziger Landkreis außerhalb Bayerns. Im Beruflichen Gymnasium in Sonneberg kommt jeder dritte Schüler aus Bayern.

Sonneberg habe nicht das Problem, im Osten zu liegen, sondern eher, dass andere Gesetze, andere Normen gelten als im zwei Kilometer entfernten Neustadt. Nicht einmal die Feuerwehren und Krankenwagen von diesseits und jenseits der unsichtbaren Grenze könnten vernünftig miteinander kommunizieren. Als dann Thüringen auch noch eine Gebietsreform plante, dachte Heiko Voigt sogar ernsthaft und laut darüber nach, dass der Landkreis nach Bayern wechseln könnte.
Ein Schlagbaum an der innerdeutschen Grenze bei Sonneberg in der DDR, im Hintergrund der Grenzzaun und ein Wachturm, aufgenommen 1986.
Ein Schlagbaum an der innerdeutschen Grenze bei Sonneberg in der DDR. (dpa / picture alliance / Gerig)
"Dann wird unsere Region noch einmal geschwächt. Also, wir haben schon das Manko mit der Grenze. Dann haben wir das Manko, dass wir keine Verwaltungsstrukturen mehr hier haben, keine höheren Verwaltungsstrukturen. Dann ergibt sich logischerweise die Frage: Ja, warum sind wir dann überhaupt noch hier? Die Frage haben wir gestellt. Die Gebietsreform hat sich jetzt nun erledigt. Wir machen weiter unsere Arbeit und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Wir haben jetzt mit Neustadt, mit unserer Partnerstadt, ein Konzept erarbeitet, wo wir versuchen wollen, diese Dinge, die uns eigentlich in der Entwicklung hemmen, irgendwie zu umgehen oder zu neutralisieren."
"Ich wand're ja so gerne am Rennsteig durch das Land. Den Beutel auf dem Rücken, die Klampfe in der Hand..."
Ein bajuwarischer Waldspaziergang mit einem Exil-Thüringer: Franz Richert studiert Forstwissenschaften im oberbayerischen Freising.
"Ich bin ein lust‘ger Wandersmann, so völlig unbeschwert. Mein Lied erklingt durch Busch und Tann, das jeder gerne hört."

"Das ist das Rennsteig-Lied?"

"Das ist das Rennsteig-Lied, das lernt man in der Schule."

Traumhaft niedrige Mieten

In der Schule in Thüringen, im Saale-Orla-Kreis. Direkt am Rennsteig. Dort ist Franz Richert aufgewachsen. Bis er vor zwei Jahren nach Süden zog, an die Technische Universität München in Weihenstephan. Richert will Förster werden: "Ich komme aus dem Thüringer Wald, Frankenwald, aus dem Gebiet. Da gibt’s sehr viel Wald. Das macht es spannend, das als Berufswunsch umzusetzen."
Richert, 22 Jahre alt, hätte auch in Thüringen oder Sachsen studieren können. Aber: "Ich wollte mal zum Studieren ein bisschen weg."
Richerts Eltern unterstützten die Pläne ihres ältesten Kindes. Er solle ruhig mal aus Thüringen raus, die Welt sehen. "Vielleicht hätte meiner Mutti sogar ein Auslandsstudium mehr getaugt. Aber das war mir zu weit."
Jetzt studiert er im Münchner Norden, der Gegend mit den höchsten Mietpreisen in Deutschland - im Durchschnitt genau zehnmal so hoch sind wie im Saale-Orla-Kreis, der Gegend mit den niedrigsten Mieten in Deutschland.
"Ja, das habe ich schnell gemerkt, dass der Wohnungsmarkt hier nicht so ist wie bei mir zuhause. In Thüringen könnte ich mir eine Zweizimmerwohnung nehmen für das Geld, das ich hier für ein Fünf-Quadratmeter-WG-Zimmer ausgebe. Das schockt einfach, welche großen Unterschiede innerhalb Deutschlands herrschen."
Das Bild zeigt den belebten Gärtnerplatz im Münchner Glockenbachviertel.
Ein Bauplatz in München kostet so viel wie der Platz für manches Dorf
Die Preise für Wohnimmobilien steigen seit Jahren, dabei ist die Zahl der Kaufverträge konstant geblieben. Von den Preissteigerungen sind laut einer Datenerhebung die begehrten Lagen besonders betroffen.
Dabei fällt Franz Richert in seinem Heimat-Ort Titschendorf direkt an der oberfränkischen Grenze manchmal gar kein Gegensatz mehr auf zwischen den benachbarten Bundesländern.
"Bei uns im Grenzgebiet ist es wirklich so, dass sich Bayern und Thüringen kaum unterscheiden. Für mich ist es nach Erfurt genauso weit wie nach Nürnberg. Ich verbinde nicht viel mit der Krämerbrücke oder dem Dom in Erfurt. Das waren für uns weite Schulausflüge."
In Freising - unter Bayern - fühlt sich Student Richert wohl. Klar, für manche Kommilitonen ist er der Ossi. "Es gibt ein paar Witze hin und ein paar Witze her - ich glaub', da muss man einfach gut kontern können."
Richert kontert gegen zu selbstbewusste Bayern gern mit deren eigenen Waffen: "Die sind meistens so überzeugt von ihrer Region, dass man sie untereinander ausspielen kann. Oberpfälzer zum Beispiel, die bellen geradezu. Die einen halten Bayern nur bis Rosenheim für wirklich bayerisch. Die anderen nur München und Freising. Den Franken darf man gar nicht erzählen, dass sie Bayern sind. Die würden sich freuen, wenn sie noch ein eigenes Bundesland wären."

Mit der Wende kam die Entlassungswelle

"Die Wetter-App sagt Nein. 18 Uhr, haben sie gesagt. Jetzt hoffe ich, dass es so bleibt. Sonst müssen wir nämlich … Dann wird es eng …": Der Himmel ist wolkenverhangen, aber die Veranstalter sind optimistisch. Geladen hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung in den Innenhof der Stadtbibliothek von Eisenberg in Ost-Thüringen zum Erzählsalon. Thema: "Das Treuhandschicksal des Möbelwerks Eisenberg".
Diese Firma hatte mal 2000 Mitarbeiter - bis 1990. Etwa 70 von ihnen sind nun da – meist im Rentenalter. Sie haben im Möbelwerk gearbeitet und wollen hören, wie ihr ehemaliger Chef Roland Steudel erzählt, wie das war damals, 1990 und in den Folgejahren. "Und ihr kennt alle den Deutrans-Zug, der jeden zweiten, dritten Tag kam, der dann die Möbel geholt hat, und wir freuten uns alle, dass wir alle D-Mark einnehmen und so."
Vier von zehn Schrankwänden aus Eisenberg gingen bis 1990 in den Westen, an Neckermann und Quelle etwa. Die Hälfte lieferten sie in die Sowjetunion. Aber eben nur bis zur Währungsunion im Juli 1990, als die Mitarbeiter plötzlich mit harter DM bezahlt und die Möbelwerke die Preise erhöhen mussten.
"Denen haben wir die neuen Preise vorgelegt. Die haben alle gesagt: "Nein, danke!" Und die russischen Menschen haben gesagt "Ja, wir wollen, aber wir haben das Geld nicht."

Dann, eines Tages, sagte dann mal der Geschäftsführer – der riss die Tür auf und sagte: "Roland, die Russen kaufen keine Möbel mehr. Bereite mal Massenentlassungen vor!" Tür zu. Und das war wahrlich kein schöner Prozess."
1354 Entlassungsgespräche musste Steudel führen. Mit Kollegen, von denen er manche schon seit 15 Jahren kannte. Später berichtet Petra Schreiber, wie es ihr ging, damals, in den 90ern.
"Hört man mich? Wenn ich hier ringsum gucke, sind so viele, die da auch ihr Leben lang fast immer dort gearbeitet haben. Ne!?" Nickende Köpfe ringsum. "Wir haben dort gelernt. Ja, das war so. Es waren ja auch viele Familien in dem Betrieb. Und plötzlich steht man da: Die Firma ist weg. Ne!?"
Wieder Nicken ringsum, zustimmendes Gemurmel. "Es ist für mich ein Trauerspiel. Ich habe der Firma gearbeitet, gelernt, gemacht. Plötzlich war sie weg. Und Eisenberg hat eigentlich Betrieb verloren. Das war das Schlimme! Ja, aber dann stehst du davor: Was machst du denn? Ein Dreivierteljahr zuhause gewesen. Und dann habe ich mich noch einmal auf dem Hosenboden gesetzt und was ganz anderes gemacht. Aber ich denke mal, das wird nicht nur mir so gehen, das wird hier vielen so gegangen sein."
Viele nicken versonnen. "Und wenn man sich denn mal trifft: Es trauert jeder nach. So gut, wie wir uns alle angestrengt haben, aber es war weg."

"Ab! Geht in die alten Bundesländer!"

Petra Schreiber hat umgelernt, arbeitet gern und ohne je arbeitslos gewesen zu sein, als Heilerziehungspflegerin. Wie fühlt sie sich vom wiedervereinigten Deutschland behandelt?
"Teilweise unfair! Muss ich jetzt mal so sagen, teilweise unfair. Es kommt zu wenig in allen Bereichen. Wir hatten ja auch ein Leben, und wir haben ja auch was gemacht. Und ich spreche da ausdrücklich auch für die Frauen. Die haben ja auch bei uns sehr schwer arbeiten müssen. Und das wird zu wenig behandelt."
"Worum geht es Ihnen da, wenn Sie sagen, da kommt zu wenig? Dass es thematisiert wird?"
"Ja, das ist mein Anliegen, denn wir waren ja, die DDR-Frauen, die waren eigenständiger, die sind auch alleine zurechtgekommen. Mit Kind, mit Karriere. Aber die sind selbstbewusster gewesen, unabhängiger." Sie wolle keinesfalls die DDR zurück. Aber Anerkennung für ihr Leben.
Am Ende erzählt Roland Steudel noch knapp, wie das war, als er 1354 Leute entlassen musste. "Den jungen Leuten, den habe ich durch die Bank weg gesagt: "Ab! Geht in die alten Bundesländer! Dort verdient ihr mehr, ihr lernt dafür. Und dann könntet ihr immer noch entscheiden und auch wieder zurückkommen! Ein paar sind schon zurückgekommen. Aber es gibt natürlich welche, die leben heute noch irgendwo. Werner, wo lebt dein Bruder? Am Chiemsee! Das war halt das Schmerzhafte bei der Geschichte. Nicht nur die Zahl, sondern das war auch Schmerz. Das war richtiger Schmerz."
Noch mal auf dem Rathausturm in Neustadt in Süd-Thüringen, mit Blick auf Oberfranken. "Üb' immer Treu und Redlichkeit" spielen die Glocken aus Meißner Porzellan zweimal täglich. Die Melodie kommt von Nadelwalzen, erklärt der Bürgermeister Heiko Voigt. Eines will er noch erzählen, weil doch Freitag sei, der Bratwurst-Tag in Sonneberg:
"Na ja, es gibt ein Kriterium: Unsere Bratwurst ist die beste. Das ist schon mal klar. Unsere Bratwurst ist komplett anders als die im Rest Thüringens. Wir haben, wie es in Bayern den Weißwurstäquator gibt, haben wir hier einen Bratwurstäquator, das ist der Thüringer Wald. Alles, was drüber ist, da ist an der Bratwurst Kümmel dran. Da werden Sie bei uns gejagt, wenn Sie Kümmel verwenden. Und dann gibt es ein ganz wichtiges Merkmal unserer Bratwurst, wird prinzipiell von den Fachleuten hier ohne Senf gegessen, weil die schmeckt so gut, dann muss man den Geschmack der Bratwurst mit Senf abtöten."
"Da muss ich fragen: Weil, den Satz, den ich oft gehört habe von Thüringern, die haben gesagt, "Die Bayern haben einfach ein besseres Marketing. Eigentlich sind wir die Stärkeren, aber die Bayern verkaufen sich besser." Wenn man das jetzt hört, was sie sagen, dann trifft das nicht mehr zu. Oder würden Sie sagen, die Bayern sind generell schon beim Verkaufen noch einen Tick besser?"
"Ja, die sind in einigem besser. Aber das sind wir ja dabei aufzuholen. Was jetzt die Bratwurst genau betrifft: Ich sage mal so, wir lachen über die Nürnberger, weil die brauchen sechs Stück, um satt zu werden. Die sind winzig klein. Unsere ist nicht gebrüht. Die ist frisch. Also wenn sie früh heute am Freitag, dem klassischen Bratwursttag, eine Bratwurst essen, dann wissen sie genau: Die ist sehr, sehr jung, die hat in der Nacht noch nicht bestanden. Also die wird früh um vier, gemacht, um dann gegessen zu werden. Deswegen wird sie auch nicht groß exportiert."
Sonneberg liegt seit 1990 wieder mitten in Deutschland und hat seine Chancen gut genutzt. So wie viele junge Leute, die in dieser Zeit geboren wurden und sich ganz selbstverständlich im geeinten Deutschland bewegen, beruflich wie privat. Die Verletzungen aus Diktatur und Transformation wirken aber weiter, auch über Generationen hinweg. Und den schick sanierten Häusern von Sonneberg ist nicht anzusehen, dass sie nur selten denen gehören, die drin wohnen.