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Thüringens SPD-Chef fordert bessere Bildungspolitik

In der Diskussion über ein wachsendes Unterschichten-Problem in Deutschland hat Thüringens SPD-Landes- und Fraktionschef Christoph Matschie zugegeben, die Hartz-Vier-Reform der früheren rot-grünen Bundesregierung sei nicht in der Lage gewesen, alle Probleme auf dem Arbeitsmarkt zu lösen. Matschie warnte davor, die betroffenen Menschen mit dem Wort "Unterschicht" zu stigmatisieren. Notwendig seien neben der Schaffung neuer Arbeitsplätze bessere Ausbildungsmöglichkeiten.

Moderation: Gerd Breker | 16.10.2006
    Gerd Breker: Welchen Namen man dafür findet, das ist recht unerheblich. Klar ist: Es gibt Menschen in unserem reichen Land, die so wenig haben, dass sie vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hat die Zahl dieser Menschen auf 8 Prozent der Bevölkerung ausgerechnet. In den neuen Ländern ist es demnach sogar jeder fünfte. "Unterschicht" ist ein Begriff. Man kann es aber auch schlicht "Armut" nennen. Wie erklärt sich diese Entwicklung? Was hat Politik damit zu tun oder was muss Politik nun tun? Die plötzliche Erkenntnis über Armut in Deutschland. Am Telefon begrüße ich nun Christoph Matschie, Fraktionsvorsitzender der SPD im Thüringer Landtag. Guten Tag Herr Matschie!

    Christoph Matschie: Guten Tag Herr Breker!

    Breker: Acht Prozent in ganz Deutschland, in Ostdeutschland gar 20 Prozent. Hat Sie das Ergebnis dieser Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung überrascht?

    Matschie: Das Ergebnis ist nicht überraschend. Wir wissen seit langem, dass es einen erheblichen Anteil von Menschen in Deutschland gibt, die in Armut leben, die unter schwierigen Bedingungen leben, und die Studie hat uns noch mal klar gemacht, dass ein großer Teil dieser Menschen eben auch kaum noch Perspektiven für sich selbst sieht und politisch in aller Regel auch kaum noch anzusprechen ist. Das ist ein sehr ernsthafter Befund. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen Chancen haben in der Gesellschaft, auch aus schwierigen Situationen wieder herauszukommen, und das ist eine politische Aufgabe, der sich die SPD stellt.

    Breker: Herr Matschie, es droht ein Streit um Begriffe wie Armut und Unterschicht. Welchen Begriff würden Sie am liebsten nehmen?

    Matschie: Ich denke, dass es richtig ist, wenn man deutlich macht, dass es eine erhebliche Gruppe gibt in Deutschland, die in Armut lebt. Ich würde diese Gruppe nicht mit dem Begriff Unterschicht versehen wollen, weil das immer eine Stigmatisierung ist. Wir tun Menschen in eine bestimmte Schublade und damit ist das Problem dann erledigt. Nein, das ist nicht so. Wir müssen denjenigen, die in schwierigen Lebensverhältnissen sind, Angebote machen, wie sie da heraus kommen. Das muss über die Arbeitsmarktpolitik geschehen, das muss aber auch durch eine bessere Bildungspolitik geschehen, denn unser Bildungssystem ist bisher nicht in der Lage, Aufstieg aus schwierigen sozialen Verhältnissen zu organisieren. Dazu brauchen wir eine bessere Betreuung, und zwar von Anfang an in Kinderkrippe und Kindergarten, aber eben auch eine Schule, die dafür sorgt, dass Kinder stärker individuell gefördert werden und dass nicht diejenigen, die die Leistung nicht bringen, einfach nach unten aussortiert werden.

    Breker: Zu dem was zu tun ist, Herr Matschie, kommen wir später noch mal. Jetzt erst mal: Wieso ist denn dieses Phänomen überhaupt entstanden? Das kommt doch nicht einfach so. Da hat Politik doch ihren Anteil dran.

    Matschie: In Ostdeutschland insbesondere haben wir ja seit vielen Jahren mit dem Problem sehr hoher Arbeitslosigkeit zu tun und diese hohe Arbeitslosigkeit ist in allererster Linie der Grund dafür, dass so viele Menschen in Armut leben, dass sie für sich selbst keine Perspektiven mehr sehen. Hier ist in den vergangenen Jahren immer wieder gegengesteuert worden mit Arbeitsmarktpolitik, mit Angeboten, aber letztendlich wird das Problem nur darüber zu lösen sein, dass es gelingt, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, mehr Angebote auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen, damit Menschen für sich eine Perspektive haben. Das ist eine Aufgabe, die noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird.

    Breker: Statt Arbeitsplätze zu schaffen, Herr Matschie, hat es in der Vergangenheit so genannte Arbeitsmarktreformen gegeben. Dieser schöne Begriff von Fördern und Fordern in Ostdeutschland - Sie leben dort - ist doch einfach eine Farce, wenn keine Arbeitsplätze da sind. Wie kann ich dann was fordern?

    Matschie: Klar ist, dass die Arbeitsmarktreform nicht in der Lage war, alle Probleme zu lösen, insbesondere in Ostdeutschland. Klar ist auch, dass mit der Debatte, die wir im Moment erleben, dass diejenigen, die Arbeitslosengeld II bekommen, diese Bezüge gekürzt kriegen sollen oder dass man noch mehr Druck auf Arbeitslose ausüben soll, das ist eine verheerende Debatte. Wir müssen klar machen: Jedem steht ein Betrag zu, der sein Existenzminimum absichert. Da darf nicht gekürzt werden und deshalb war es richtig, in Ostdeutschland das Arbeitslosengeld II anzuheben auf das gleiche Niveau, wie wir es auch in den alten Bundesländern haben. Und zum zweiten: Weitere Verschärfungen der Bedingungen für Arbeitslose, die führen nur zur Demütigung dieser Gruppe. Wir müssen nicht die Bedingungen weiter verschärfen, sondern wir müssen jetzt dafür sorgen, dass es mehr Angebote für Menschen gibt und dass sie in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Im Übrigen war ja gerade eine Überlegung der Arbeitsmarktreform zu sagen, wir wollen nicht Menschen einfach mit Sozialhilfe abspeisen, sondern wir wollen dafür sorgen, dass sie über die Arbeitsagenturen konkrete Angebote bekommen, Weiterbildungsangebote, Beschäftigungsmöglichkeiten. Das gelingt noch nicht so, wie das notwendig ist, insbesondere in Ostdeutschland nicht, aber an dieser Stelle müssen wir die Anstrengungen verstärken.

    Breker: 20 Prozent der Menschen in Ostdeutschland in diesem Bereich der Armut. Nennen wir es ruhig so. Herr Matschie, da werden doch Strukturen verfestigt. Man kann darüber reden, was man für Kinder und Jugendliche tun will, aber hier: Ist da eine ganze Generation aufgegeben worden?

    Matschie: Wir dürfen diese Generation nicht aufgeben, auch gerade diejenigen nicht, die schon lange Zeit arbeitslos sind, sondern wir müssen mit Angeboten der Arbeitsagenturen dafür sorgen, dass Menschen wieder in Beschäftigung kommen können, dass gerade langjährige Arbeitslosigkeit durchbrochen werden kann. Wir haben ja in der Arbeitsmarktreform auch den Anspruch verankert, dass die unter 25-Jährigen auf jeden Fall - und zwar jeder von ihnen - ein Angebot bekommen muss. Das wird noch nicht überall ausreichend umgesetzt. Das müssen wir aber durchsetzen und wir müssen vor allem dafür sorgen, dass Kinder, die in solchen schwierigen Situationen aufwachsen, alle Unterstützung des Staates bekommen die sie brauchen, dass sie frühzeitig eine Kinderkrippe, einen Kindergarten besuchen können, dass sie Förderung bekommen, dass sie Anregung bekommen und dass auch in der Schule alles getan wird, um diejenigen die nicht ganz so schnell mitkommen stärker zu unterstützen, anstatt zu sagen du bist in der Realschule am falschen Platz, du kommst jetzt in die Hauptschule und wenn es da auch nicht klappt, irgendwie in die Förderschule. Nein, wir müssen jedes Kind individuell fördern, und zwar stärker als das bisher der Fall gewesen ist.

    Breker: Wenn wir uns, Herr Matschie, die Realität anschauen, dann kommt auf uns eine höhere Mehrwertsteuer zu. Wir haben höhere Krankenkassenbeiträge zu zahlen. Damit wird doch der Abstand zwischen Arm und Reich vergrößert. Stattdessen diskutieren wir demnächst über eine Unternehmenssteuerreform und um weitere Reformen - Sie hatten es schon kurz angedeutet - von Hartz IV.

    Matschie: Deshalb sage ich zum Beispiel bei der Unternehmenssteuerreform, es ist kein Geld da, um eine Entlastung bei der Unternehmenssteuerreform zu machen. Die muss aufkommensneutral sein. Wir müssen auf der anderen Seite bei den weiteren Reformschritten dafür sorgen, dass diejenigen die jetzt in materiell sehr schwierigen Verhältnissen leben bessere Chancen bekommen, zum Beispiel darüber, dass wir einen gesetzlichen Mindestlohn schaffen. Gerade in Ostdeutschland sind viele gezwungen, für Stundenlöhne zwischen vier und fünf Euro zu arbeiten. Das ist nicht auf die Dauer akzeptabel. Die Gewerkschaften besitzen nicht die Kraft, hier andere Lohnstrukturen durchzusetzen, und deshalb brauchen wir nach meiner Überzeugung einen gesetzlichen Mindestlohn, der dafür sorgt, dass Menschen die vollzeit arbeiten von ihrer Hände Arbeit auch tatsächlich leben können.