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Tiefensee: Hilfe für NRW - aber nicht aus Solidarpaktmitteln

Viele Kommunen im Ruhrgebiet sind hoch verschuldet. Die Bürgermeister fordern deshalb ein Ende des Solidarpakts für den Aufbau Ost. Wolfgang Tiefensee (SPD), ehemaliger Regierungsbeauftragter für Ostdeutschland, äußert Verständnis für deren Misere. Gefragt sei hier aber vor allem der Bund.

Wolfgang Tiefensee im Gespräch mit Martin Zagatta | 20.03.2012
    Martin Zagatta: Neben dem Streit über Norbert Röttgen zeichnet sich jetzt auch ein weiteres Wahlkampfthema ab. Viele Kommunen in Nordrhein-Westfalen sind hoch verschuldet und müssen noch zusätzliche Gelder aufnehmen, um ihre Verpflichtungen aus dem Solidarpakt für den Aufbau Ost zu erfüllen. Deshalb fordern vor allem Bürgermeister, SPD-Bürgermeister aus dem Ruhrgebiet jetzt, diesen noch bis 2018 geltenden Pakt aufzukündigen. Wir haben den SPD-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Tiefensee, den früheren Beauftragten der Bundesregierung für den Aufbau Ost, gefragt, ob er Verständnis hat für die Forderungen dieser hoch verschuldeten Städte im Ruhrgebiet, den Solidarpakt aufzukündigen.

    Wolfgang Tiefensee: Ich habe großes Verständnis dafür, dass die armen Städte in Nordrhein-Westfalen sich zu Wort melden und um Unterstützung bitten, oder ihre Not hinausschreien. Dafür habe ich Verständnis. Allerdings wird da das falsche Instrument gewählt. Wenn man den Solidarpakt, der ausverhandelt ist bis zum Zeitraum 2019, antasten will, dann begibt man sich auf den falschen Weg.

    Zagatta: Aber ein Beispiel nur: Die Stadt Essen ist mit etwa 2,1 Milliarden verschuldet, wenn die Zahlen stimmen, ein Drittel davon verursacht durch diese Beiträge zum Solidarpakt. Wie wollen Sie das den Menschen in Essen erklären, dass das noch so weitergehen soll über Jahre?

    Tiefensee: Ja ich denke, Politik hat hier die Aufgabe, zu erklären. Einmal muss man sagen, dass es einen Vertrag im Jahre 2001 gegeben hat, der bis zum Jahre 2019 läuft. Pacta sunt servanda. Zum Zweiten: Die Beträge, die vom Westen in den Osten transferiert werden, schmelzen schon seit geraumer Zeit deutlich ab. Ich will daran erinnern, dass im Jahr 2005 zehn Milliarden geflossen sind, im Jahre 2015 werden es nur noch fünf Milliarden sein, und so steigt das bis 2019 deutlich um 700-Millionen-Schritte ab. Das Dritte ist: Man muss erklären, das ist ein Vertrag zwischen dem Bund und den Ländern, und wenn die Länder ihrerseits die Kommunen heranziehen, ist das eine Angelegenheit, die in der freien Entscheidung der Länder liegt. Und zum Vierten - und das ist eigentlich das wichtigste: Man muss erklären, dass es im Osten in weiten Teilen des Landes eine eklatante Strukturschwäche gibt, die noch diese Förderung notwendig macht. Ich denke an die Arbeitslosigkeit, die mangelnde Produktivität, es gibt kaum Unternehmen in einer bestimmten Größe -, so dass das Fazit ist: 2019 Solidarpakt II, das ist in Ordnung, wir müssen dann später nachverhandeln, und die Städte in Nordrhein-Westfalen brauchen Hilfe, dringend Hilfe, aber andere Hilfe, nicht aus dem Topf des Solidarpakts II.

    Zagatta: Sie sagen, die Verträge müssen eingehalten werden. Jetzt gibt es aber auch das Argument, das Ganze sei ja, wenn man es als falsch erkennt, über den Bundesrat zu korrigieren. Die SPD-regierten Länder sollten da die Initiative ergreifen. Wie stehen Sie dazu?

    Tiefensee: Ja, die Grundprämisse teile ich nicht, dass der Vertrag falsch angelegt ist, dass die Gelder falsch angewendet sind. Ich teile die Auffassung - das ist jetzt unlängst wieder in einer Studie, der sogenannten Geheimstudie vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle herausgekommen -, dass es im Westen Deutschlands Regionen, Städte gibt, die dringend Unterstützung brauchen, die sich alleine nicht aus dem Sumpf ziehen können. Sie brauchen eine Unterstützung durch das jeweilige Land und sie brauchen die Programme des Bundes.

    Zagatta: Herr Tiefensee, müssten denn diese Städte dann von Zahlungen für diesen Solidarpakt ausgenommen werden, weil die müssen sich dafür auch noch verschulden?

    Tiefensee: Ich will noch mal unterstreichen: Das ist eine Angelegenheit der Länder. Die Länder haben den Vertrag mit dem Bund, nicht die Städte, also nicht Gelsenkirchen unterstützt Dresden, sondern Nordrhein-Westfalen unterstützt einen großen Topf, in dem dann die Gelder auch nach Sachsen - übrigens auch in dort sehr strukturschwache Regionen - fließen. Aber wenn der Bund zurzeit ständig die Programme für solche Städte wie Gelsenkirchen, Duisburg, Dortmund streicht oder in Frage stellt, dann kann das natürlich nicht vorangehen - denken Sie an solche Programme wie Stadtumbau West oder soziale Stadt oder den städtebaulichen Denkmalschutz. Das sind alles Programme, die der Bund zusätzlich anwenden kann, um hier einen Ausgleich zu schaffen, und die werden ständig in Frage gestellt und das verunsichert natürlich die Kommunen.

    Zagatta: Der Vorwurf aus Nordrhein-Westfalen ist auch - und das sagen auch dort Experten -, viele Kommunen im Osten werden mit Geld aus diesem Solidarpakt geradezu überschüttet und wüssten mittlerweile gar nicht mehr, wohin mit diesen Mitteln, wie sie diese Mittel überhaupt noch sinnvoll einsetzen können. Ist das im einen oder anderen Fall berechtigt?

    Tiefensee: Nein, das kann ich nicht erkennen. Der Transfer geschieht so: Die Länder zahlen in einen Topf ein und nach einem ganz bestimmten Schlüssel gehen die Gelder in die Bundesländer des Ostens einschließlich Berlin. Und hier werden sie aufgeteilt, auch nach Bedürftigkeit, und es gibt gravierende Unterschiede innerhalb der Länder. In meiner Heimatstadt Leipzig beispielsweise, die sich hervorragend entwickelt hat, gibt es immer noch eine Arbeitslosigkeit von etwa elf Prozent. Ich weiß, dass es in vielen Städten des Westens deutlich höhere Arbeitslosigkeit gibt, aber selbst Leipzig hat hier noch zu kämpfen. Wir haben weder eine Forschungsinfrastruktur, noch wie gesagt große stabile Betriebe, die die Wirtschaft stabilisieren würden. Und alles das wird von der Landesregierung und dem Landtag eines jeweiligen Landes entschieden, und so kommt es nicht vor, dass eine Stadt, die ohnehin schon stark ist, von diesen Solidarpaktmitteln nutznießt.

    Zagatta: Wenn das jetzt zutrifft, was Sie sagen, Herr Tiefensee, dann wird das ja ein Schwarzer-Peter-Spiel, also man schiebt jetzt von SPD-Seite dem Bund die Schuld zu. Diese ganze Diskussion und dieser Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen, läuft das dann jetzt darauf hinaus, dass der Ost-West-Gegensatz wieder aufflammen könnte?

    Tiefensee: Die Diskussion flammt immer mal wieder auf, Herr Zagatta, da haben Sie völlig recht. Aber ich stehe da insofern an der Seite von Hannelore Kraft, als sie gesagt hat, ich will den Solidarpakt II bis 2019 nicht antasten, erstens, ich möchte nach 2019 verhandeln - da wird ja der Länderfinanzausgleich auch noch mal zur Rede stehen -, und drittens, wir brauchen dringend Unterstützung vom Bund. Und noch einmal: Es gibt nicht ein Entweder-oder, also entweder fördern wir den Westen oder den Osten. Sondern es geht darum, dass wir strukturschwache Regionen in Ost und West fördern, dass wir sie identifizieren und die entsprechenden Instrumente dafür finden. Aber der Solidarpakt II ist dafür das ungeeignete Instrument, der sollte nicht angetastet werden. Wir müssen über andere Formen diskutieren, und zu dieser Diskussion kann ich nur ermuntern.

    Zagatta: Der SPD-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Tiefensee, der ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für den Aufbau Ost. Herr Tiefensee, herzlichen Dank für das Gespräch.

    Tiefensee: Bitte schön! Gerne.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.