Dienstag, 19. März 2024

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"Tiefer Schweb" an den Münchner Kammerspielen
Kehrseite der stimmschönst besungenen Heimat

Christoph Marthaler zeigt mit seinem Stück "Tiefer Schweb" an den Münchener Kammerspielen im Nebenbei die Abgründe zunächst liebenswert erscheinender Menschen. Das Thema ist der Umgang mit Flüchtlingen - was in den Tiefen des Bodensees ausgehandelt wird.

Von Sven Ricklefs | 25.06.2017
    Der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler
    Der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler (picture alliance / dpa / Barbara Gindl)
    Was für ein schöner Titel: Tiefer Schweb, die tiefste Stelle im Bodensee also: 243 Meter. Und was für eine Steilvorlage für den Schweizer Theatermacher Christoph Marthaler. Da haben sich acht Beamte in eine geheime Klausur gezwungen, um sich von ihrem Vorsitzenden bestätigen zu lassen, dass ihr Ausschuss ...
    "... zur nachhaltigen Oberflächenneuordnung der exterritorialen Bereiche des Bodensees vollzählig erschienen ist. Dafür wurde eine Präsenzpflicht in unmittelbarer Nähe des Verhandlungsgegenstandes angeordnet, in diesem Fall die Klausurdruckkammer 55b, 243 m unter dem Wasserspiegel."
    Was da tief unter Wasser letztlich beraten werden soll, das ist die Unterbringung von Flüchtlingen, die aber explizit im Text mit keinem Wort erwähnt werden.
    Freundlich kommen sie daher, nett und singend, wie so oft, diese liebenswerten Menschen bei Christoph Marthaler, die ihre Abgründe nur so im Nebenbei offenbaren. Und so schleichen sich die Parallelen von Bakterienverseuchung des Bodensees und dem Flüchtlingsbefall erst später ein, geht es doch zunächst einmal nur um die möglichst unsichtbare Unterbringung.
    Wobei man auch unter der Oberfläche in Betracht zieht, um Anrainer und vor allem auch den Tagestourismus nicht zu stören.
    Beklemmend eintönig getäfelter Gastraum
    Die Bühne von Duri Bischoff zeigt einen beklemmend eintönig getäfelten Gastraum, an dessen einzigem Tisch der Ausschuss zusammentrifft und dessen riesiger Kachelofen zugleich als Einstiegsluke in die Druckkammer genutzt wird, durch die durchaus auch einmal ein Taucher kommen kann mit frischen Keksen.
    Und es gibt eine Wand, die sich aufschieben lässt und hinter der ein Archiv installiert ist mit Kanistern, so als seien dort steril Bakterien archiviert. Zugleich wird auch innerhalb des Ausschusses und der Ausschussräumlichkeiten sehr auf Hygiene geachtet. Das besorgt dann ausgerechnet der deutschlibanesische Schauspieler Hassan Akkouch aus dem Ensemble der Münchner Kammerspiele, der hier einen geflüchteten Bakteriologen spielt, der es immerhin schon in den Ausschuss geschafft hat, der aber noch einige Prüfungen zu bewältigen hat, so etwa muss er ausgerechnet das Schuhplattlern vorführen.
    Noch banger wird einem bei dem wie immer bei Christoph Marthaler durchaus platzraubend ausgestellten Liedgut, bei dem es immer auch um die Heimat in der Musik geht, das Aufgehobensein im Bekannten und Traditionellen. Denn gerade er, der ja so herzerwärmend gern singen lässt, lässt immer auch die Kehrseite dessen hervorlugen und tut dies in diesem Fall noch einmal ganz besonders.
    Hat doch selbst die stimmschönst besungene Heimat als Kehrseite immer eine böse Fratze, die sie liebend gern jedem nicht dazugehörenden, jedem Fremden zeigt. Und wenn da plötzlich ein Ausschussmitglied austickt, nur, weil ihm die Stuhlbeine weggebrochen sind, und er dann in einem Anfall von Raserei die ohnehin immer auch klaustrophobisch gespenstische Szenerie beginnt, mit Holzplanken zu verbarrikadieren und Stacheldraht verspannt, dann ist ein Schelm, wer da an uns alle und an unsere Festung Europa denkt.
    Aber natürlich amüsiert man sich als Schelm ganz wunderbar über all diese herrlichen Schauspielerinnen und Schauspieler, über die, die schon immer zur Marthaler-Familie gehörten wie Olivia Grigolli, Ueli Jäggi oder den Musiker Jürg Kienberger genauso wie über Hassan Akkouch, Anette Paulmann, Walter Hess oder Stefan Merki von den Münchner Kammerspielen.
    Und so haben die Münchner Kammerspiele mit "Tiefer Schweb" von Christoph Marthaler nun ein Juwel auf dem Spielplan, das viele Zweifler an dem Programm von Intendant Mathias Lilienthal zumindest an ihrem Zweifel zweifeln lassen könnte.