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Tierversuch "Lohengrin"

Natürlich sagt ein Theatertext im Schriftlaut immer dasselbe. Das gilt auch für Text und Notation einer Oper. Aber im Idealfall meint sie jedes Mal auf der Bühne, inszeniert und musikalisch interpretiert, etwas anderes. Im Idealfall ist jede neue Inszenierung immer auch eine neue Versuchsanordnung, ein neues Experiment, ein Gefühlslabor mit unerwartetem Ausgang.

Von Christoph Schmitz | 26.07.2010
    Insofern behauptet Hans Neuenfels mit seinem "Lohengrin" in Bayreuth etwas Selbstverständliches, wenn er die Handlung in die aseptischen Räume eines Tierversuchslabors voller Ratten verlegt. Nur dass er es etwas drastischer bebildert. Denn die Ratten sind bei Neuenfels die Menschen von Brabant, die vom Laborpersonal in hellgrünen Schutzanzügen durch das sterile Ambiente gescheucht werden. Auch ihr König, scheint es, gehört zum Tierversuch, obwohl er nicht als Nager verkleidet ist, aber er wird wie ein Gefangener vor- und abgeführt, dasselbe gilt für Elsa, Ortrud und Telramund, wobei der tote Telramund gegen Ende mit einer Rattenmaske auf dem Gesicht hereingeschoben wird und in seine eigentliche Gestalt zurückgefallen scheint. So könnte man sagen: Für Neuenfels sind die Menschen in diesem Stück allesamt ein instinktgetriebenes, epidemisches, auf Überlebenskampf in der und als Masse angelegtes, machtgieriges Gezücht, was die auf eine Leinwand projizierten Zeichentrickfilme noch einmal unterstreichen.

    Nur einer kann und will das nicht ganz glauben – Lohengrin. Er stemmt sich noch während des Vorspiels gegen eine riesige Wand an der Rampe, die er nach hinten schiebt und damit den Raum schafft für ein letztes Experiment, mit dem er beweisen möchte, dass die Humanisierung der tierischen Menschennatur durch seine liebende Intervention möglich sei. Und tatsächlich legt das Rattenvolk nach Elsas Treueeid gegenüber Lohengrins Frageverbot zum ersten Mal sein Fell ab und feiert in sonnenblumengelbem Frack eine vermeintlich neue Ära. Am Ende aber kommt es, wie es kommen muss, das Experiment scheitert, und Lohengrin hinterlässt beim Abgang nicht den verzauberten Herrscherknaben Gottfried, sondern ein meterhohes Schwanenei, in dem ein Embryomonster hockt, das seine Nabelschnur zerreißt und eine schreckliche Zukunft verheißt.

    So Furcht einflößend dieses Baby aussehen mag, so hoffnungslos die Neuenfelssche Deutung dieser romantischen Oper ausfällt, so leblos, thesenhaft und unsinnlich bleibt die Neuinszenierung. Sie kann die Sterilität des Laborambientes nicht überwinden. Auch die meisterliche Personenführung und Dialogpsychologie in den Begegnungen zwischen Lohengrin, Elsa, Ortrud und Telramund wird vom kühlen Oberflächenglanz des Bühnenbildes von Reinhard von der Thannen, einer gezirkelten Choreografie und einer alles beherrschenden cleanen Comicästhetik neutralisiert. Zudem liefert Neuenfels mit seiner nüchternen Analyse keinen Erkenntnisgewinn. Das Einzige, was er uns in seinem altersmüden Spätwerk offenbart, ist ein eindimensional hoffnungsloses Menschenbild.

    Eine musikalische Offenbarung war die Premiere gestern Abend auch nicht. Jonas Kaufmann in der Rolle des Titelhelden hatte noch zu viel Cavaradossi-Schmelz aus seiner Münchener "Tosca" mitgebracht. Außerdem hatte seine Stimme etwas buttriges, was die Melodielinien verwischte. Auch Annette Dasch als Elsa von Brabant fehlte etwas, nämlich eine dramatische Spannkraft, die auch diese ätherische Träumerin in entscheidenden Momenten unbedingt braucht. Evelyn Herlitzius sang eine wahrlich Gift sprühende Ortrud, wenn sie nur gesungen und nicht geschrien hätte. Auch Hans-Joachim Ketelsen sang zu wenig, auch wenn sein deklamatorischer Stil wundervoll textverständlich war. Und der junge und vielgepriesene Lette Andris Nelsons braucht wohl noch einige Aufführungen, um mit der komplizierten Akustik des Bayreuther Grabens zurechtzukommen.

    Schöne Momente gab es, aber noch kein musikalisches Gesamtbild. Ein guter Start in eine neue Festspielzeit unter Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier ist der neue "Lohengrin" nicht.

    Infos:
    Richard-Wagner-Festspiele Bayreuth