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Tigerlilly

In Israel ist Alona Kimhi ein Star. Zwar steht sie schon lange nicht mehr als Schauspielerin auf der Bühne, aber man erinnert sich an ihr Gesicht. Und jüngere Israelis kennen Songtexte, die Alona Kimhi für Rockbands wie T-Slam und den Sänger Izhar Ashdot, mit dem sie verheiratet ist, geschrieben hat. Ihr Roman "Lilly die Tigerin" wurde in Israel ein Bestseller. Alona Kimhi schreibt, weil die Literatur, wie sie sagt, Ordnung in ihr Leben bringt.

Von Sigrid Brinkmann | 09.11.2006
    Hoch gewachsen ist sie und feingliedrig. Sitzt lässig auf einem Barhocker und gleitet geschmeidig herunter, als ich direkt auf sie zugehe. Alona Kimhis Romanheldin Lilly ist 112 Kilo schwer: eine vor Selbstbewusstsein strotzende Frau, die kurz vor der geplanten Hochzeit mit einem Oberstleutnant von diesem wegen ihrer Leibesfülle verlassen wurde und nun auf Männerjagd geht, wenn sie Sex braucht. Ihre beste Freundin ist Ninusch: Eine durchsichtig wirkende Schönheit mit fauligen Zähnen und einem genetischen Defekt, der sie aussehen lässt wie eine "Kreuzung aus Mensch und Trauerweide". Ninusch fehlen Nervenbahnen, und weil sie von erschreckend passiver Freizügigkeit ist, wird sie immer wieder von Männern missbraucht.

    Nicht so die resolute Michaela. Deren Mann hat die Kinder nach New York entführt. Michaela fährt Taxi. Ihr Mundwerk, so Kimhi, "macht Überstunden mit ungefiltertem Zeug". Ihre Gefühle offenbart Michaela, indem sie sich nützlich macht.

    Alona Kimhi: "Das Buch handelt von der sagenhaften Kraft schwesterlichen Verhaltens. Ich wüsste nicht, wie ich ohne meine Freundinnen klar gekommen wäre. Jede Frau findet ihren eigenen Weg, in dieser Welt zu überleben, aber ernsthaft: Ohne Freundinnen gäbe es mich schon nicht mehr. "

    Lilly glaubt unverbrüchlich an die allumfassende Liebe. Nur gibt es keinen einzigen Mann in Kimhis Roman, der es verdiente, geliebt zu werden. Zu den übelsten Gestalten gehört Leon, der ein Vermögen verdiente mit einer elektrischen Radlerhose zum Abbau von Cellulitis. Seine erste Frau fand den Tod in einem frühen Prototyp, der noch an die Steckdose angeschlossen wurde.

    Keiner aber ist so zynisch wie der aus der Sowjetunion eingewanderte Zuhälter Magometov. Er verkauft Waisenkinder aus Rumänien, Litauen und der Ukraine in die Arabischen Emirate. Hochgepäppelt werden die blassen Kinder in einem Haus in der Nähe von Ashkelon: Da, wo die "Noworusskie", die neureichen Russen sich Schlösser bauen, im Vergleich zu denen "Beverhills ein Dreck ist".

    " Als das Buch in Israel rauskam, wurde ich in vielen Kritiken als Männerhasserin bezeichnet. Ich war ziemlich unglücklich darüber. Das ist jetzt zwei Jahre her, und nun sage ich tatsächlich: Ich hasse keinen einzigen Mann, aber ich hasse die männliche Spezies als solche. "

    Woher nimmt sie diese Gewissheit?

    " Ich habe einen ziemlich großen Freundeskreis, aber von Zeit zu Zeit spüre ich das tiefe Bedürfnis, in die Stadt, in die Menge abzutauchen. Ich gehe in Clubs, spreche Leute an. Was ich da höre, zeigt mir, dass es einen tiefen Frauenhass gibt. Er wird Männern anerzogen. Sie hassen Frauen nicht, weil diese erfolgreich sind. Das sitzt tiefer. Da brechen prähistorische Schichten der menschlichen Psyche auf. Aber Psychologie interessiert mich nicht mehr. Freudsche Begrifflichkeiten langweilen mich. Die Psychoanalyse trivialisiert das Leben. Da bin ich ganz reaktionär. Wir sind doch alle satt. Ich will sehen, wo jemand sich für das Gute entscheidet oder für das Böse. Wir leben in einer schrecklichen Welt, aber wir haben die Wahl. Diese Entscheidungsfreiheit ist alles, was wir wirklich besitzen. Wenn ich mit Freunden rede, dann liefern wir uns natürlich ständig psychologische Erklärungen, um uns selbst und unser Handeln zu begreifen, aber wenn ich mir die Welt anschaue - wirklich, dann ist Psychologie mir total egal. "

    Alona Kimhis Heldin bekommt von ihrem ersten Liebhaber - einem japanischen Philologen, der sich ein Intermezzo als Raubtierbändiger beim Zirkus gönnte - ein Tigerbaby geschenkt. Der Mann hat eine Geschlechtsumwandlung vollzogen. Lilly und das "künstliche Menschentier", wie Kimhi das geschlechtsverwandelte Wesen nennt, verbringen eine ausschweifende Nacht miteinander. Danach mutiert die alerte, unbändig sehnende Lilly selbst zu einer Tigerin. Sie akzeptiert das Animalische ihrer Weiblichkeit. Deren Unzivilisiertheit wird in der Tierhaftigkeit für jeden sichtbar. Männer nehmen vor Lilly Reißaus.

    Am Ende steht der Aufbruch in eine unbekannte Weite. Die solidarische Michaela setzt Lilly die Tigerin und das Tigerbaby am Jordanufer aus. Deren gefühltes Fernziel ist Bengalen, ein Schutzgebiet für Tiger. Das Ende, findet die Autorin, sei traurig. Eine Kapitulation.

    Kimhis Humor ist drastisch, ihre Prosa spöttisch. Zielsicher setzt sie Stachel. Ihre erzählerische Respektlosigkeit ist einzigartig in der israelischen Gegenwartsprosa. Allein die Weise, wie sie Lillys Herkunft vorführt, dürfte deutsche Leser auch befremden. Lillys Eltern sind Überlebende der Shoah. Sie arbeiten als Komödianten und sehen, so Kimhi, "wie fabrikneue Puppen aus, die als Pärchen auf den Markt gebracht werden, eine nicht mehr ganz taufrische jüdische Variante von Barbie und Ken". Kimhi stellt Lilly zum Schutz eine kommunistische Großmutter zur Seite. Eine, die mit ihrem alten Käfer hinauf nach Galiläa fährt, um Freunde in arabischen Dörfern zu besuchen und gemeinsam die Internationale zu singen. Gegen das jiddische Theater, in dem Lillys Eltern auftreten - in ihren Augen ein unseliger "dekadenter Bunker" - rebelliert die alte Rachela erfolglos.

    Bevor wir auseinandergehen, erzählt Alona Kimhi noch von einem Theaterabend, der sie über die Maßen berührt hat. Ein in Tel Aviv arbeitendes russisches Ensemble hat Tschechovs "Kirschgarten" aufgeführt.

    " Da gibt es diese maßlose Traurigkeit darüber, dass man niemals das bekommt, wonach man sich sehnt. Diese russische Melancholie, mit der ich groß geworden bin, prallt in diesem Land hier auf einen vorherrschenden amerikanischen Optimismus, auf Happyness-Psychologie, und die ewige Frage: Warum verliebe ich mich immer in den Falschen? Den Falschen gibt's nicht. Man verliebt sich. Das ist alles. Was die Liebe angeht, da befinde ich mich einfach auf der andern Seite, mit weit geöffneten Händen und sage: Oh mein Gott, ich habe gesündigt, aber so sehr nun auch wieder nicht!"

    Alona Kimhi: "Lilly die Tigerin"
    Melodram
    Aus dem Hebräischen von Ruth Melcer
    358 Seiten, geb.,
    Carl Hanser Verlag, 2006