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Tino Sehgal in Stuttgart
Kunst als Erinnerung

Soziale Interaktion, Tanz und Gesang sind die wesentlichen Elemente von Tino Sehgals Werk. Der Künstler verbietet Fotos und Filmaufnahmen, es gibt keine Kataloge und keine Vernissage, nur die Erinnerung bleibt. Seine neueste Arbeit wird im Stuttgarter Kunstmuseum gezeigt.

Von Christian Gampert | 23.06.2018
    Der Künstler Tino Sehgal fotografiert in einem Probenraum in Berlin-Mitte
    Kultur Tino Sehgal Künstler fotografiert in einem Probenraum in Berlin Mitte (imago images/Christian Kielmann)
    In den Fußgängerzonen der Großstädte sind ja sowieso allerlei Verrückte unterwegs, Gaukler, Performer, Zauberer, Musiker – neben den vielen Heimatlosen, die einen Euro wollen oder einfach ein Gespräch. So fiel die kleine Polonaise, die sich aus dem Stuttgarter Kunstmuseum auf die Königstraße hinausbewegte, zunächst nicht weiter auf. Eine Reihe von Tänzern eroberte unter Ausstoßung exotischer Laute den öffentlichen Raum, jeder stellte mit ziemlich abstraktem Bewegungs-Vokabular etwas von sich selber dar, es gab Soli und synchrone Teile, und das Ganze endete in einer Art Liege- oder Sitzblockade, einer Kette von Träumenden. Ist das Kunst? Eine Demo? Eine Sekte? Von allem ein bisschen. Tino Sehgals Kunst der "konstruierten Situation" braucht eigentlich den geschützten Raum, das Museum, die Stille und die Konzentration. Das Konzept funktioniert aber auch Open Air; allerdings ist der Strom von Passanten, die eilig um die Kunst herumlaufen, für die Aura des Werks mehr als gefährlich.
    Lebendiges Kunstwerk
    Der Ansatz von Sehgal ist eigentlich einfach: Er möchte den Begriff des Kunstwerks umdefinieren und auch das Museum als Institution neu fassen. Im Prinzip steht das in der Tradition von Marcel Duchamp, der einen Flaschenhalter und ein Urinoir zu Kunstwerken erklärte. Nur ist ein Kunstwerk für Sehgal nichts Statisches: es lebt, es ergibt sich immer wieder neu. Als Sehgal im Jahr 2000 als Konzeptkünstler anfing, stellte er sich eine entscheidende Frage:
    "Warum haben wir in unseren Innenstädten solche tempelartigen Gebäude, und warum, im Gegensatz zu allen anderen Kulturen, warum wird in diesem Ort nicht gesungen und getanzt, sondern es werden nur Objekte begutachtet?"
    Ja, warum? Vielleicht liegt es am Fetisch-Charakter der Kunst, vielleicht auch daran, dass Kunstwerke Geldanlagen sind, Wertgegenstände. Genau das will Sehgal vermeiden: Seine Arbeiten dürfen nicht gefilmt oder fotografiert werden. Er setzt auf das direkte Erlebnis. Das Publikum soll lernen, dass Konventionen und Vereinbarungen bei der Kunstproduktion eine Rolle spielen. Zum Beispiel die, dass man sich als Publikum normalerweise still verhält – hier aber darf man durchaus eingreifen. Besucher und Aufsichtspersonal laufen, wir sind inzwischen drinnen im Stuttgarter Kunstmuseum, vorsichtig durch die Choreografie der am Boden liegenden oder minimalistisch tanzenden Künstler hindurch, die meisten bleiben respektvoll am Rande. Aber man merkt als Zuschauer ziemlich bald, dass man selber Teil eines absurden Kontexts wird. Also: Im großen, leeren Saal des Stuttgarter Kunstmuseums, wo vor kurzem noch Stahlskulpturen von Jannis Kounellis standen, liegen nun Menschen; auch sie wirken wie Plastiken, aber doch zerbrechlicher, angreifbarer. Sie stoßen sanfte Klagelaute aus und manchmal perkussive Töne; dann erheben sie sich, ein Chor von Schlafwandlern.
    Poetische Laute
    Gerade das Zeitlupenhafte des Geschehens ist die größte Stärke dieser Arbeiten; der Zuschauer wird mit etwas völlig Fremdartigen konfrontiert, das aber auch er selber sein könnte: Am Boden liegende, tierische Laute ausstoßende Menschen. Nicht so aggressiv wie Dada oder die Surrealisten, eher poetisch und hermetisch.
    "Es ist so, dass es immer noch so einen Anklang gibt an Skulptur. Man kann es immer noch als skulpturale Konfiguration im Raum wahrnehmen."
    Es ist klar, dass eine solche stille Performance in einem Theaterkontext wenig Chancen hat, weil man dort mehr Text, mehr Interaktion, mehr Dramaturgie erwartet. Insofern war die Idee von Chris Dercon, Tino Sehgals Arbeit in der Volksbühne zu platzieren, ein Teil des allgemeinen Berliner Theater-Desasters. Hier im Museum aber, wo eine ganze Reihe auch älterer Sehgal-Werke ein sanftes Kontinuum bilden, kann man nun fünf Wochen lang sich be-fremden lassen, die gesamten täglichen Öffnungszeiten lang. Aber es lohnt sich auch, nur einen kurzen Blick zu werfen – etwa auf zwei Tänzer, die sich zu einer langen, intimen Umarmung ineinander schrauben. "The kiss" heißt das. Wunderschön.