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Tiphaine Samoyault: "Roland Barthes"
Eine sehr gründliche Biografie

Wenn ein Schriftsteller schon zu Lebzeiten skizziert, wie er sich eine geschmeidige Biografie über sich selbst vorstellt, dann ist das keine leichte Aufgabe für den Biografen. Der Literaturwissenschaftlerin Tiphaine Samoyault ist eine sehr gründliche Biografie gelungen, meint unser Rezensent Jochen Schimmang.

Von Jochen Schimmang | 13.12.2015
    Der Literaturtheoretiker Roland Barthes. Aufgenommen 1970 in Paris.
    Der Literaturtheoretiker Roland Barthes. Aufgenommen 1970 in Paris. (imago)
    Manchmal darf man es auch gleich zu Anfang sagen. Dies ist eine sehr gründliche Biografie. Voller Empathie, zugleich aber mit dem nötigen Abstand geschrieben. Zwar gab es Anfang der Neunzigerjahre schon eine auch ins Deutsche übersetzte Biographie von Louis-Jean Calvet – doch eine neue war überfällig. Dabei standen Tiphaine Samoyault, Literaturwissenschaftlerin und Romanautorin, erheblich mehr Archivmaterialien zur Verfügung als ihrem Vorgänger. Dass sie, Jahrgang 1968, kaum mehr Barthes' Zeitgenossin ist, verschafft ihr die nötige Distanz, die sie dennoch nicht daran gehindert hat, uns deutlich zu machen, dass Roland Barthes auch 35 Jahre nach seinem tragischen Tod gleichwohl unser Zeitgenosse ist.
    Bloß keine Biographie
    Dabei wog ihre Aufgabe doppelt schwer, weil doch fast jeder, der sich irgendwann mit Barthes beschäftigt hat, diesen berühmten Satz aus dem Buch Sade Fourier Loyola kennt:
    "Wäre ich Schriftsteller und tot, wie sehr würde ich mich freuen, wenn mein Leben sich dank eines freundlichen und unbekümmerten Biografen auf ein paar Details, einige Vorlieben und Neigungen, sagen wir auf 'Biografeme' reduzieren würde."
    Vier Jahre später ist der Autor seinem Vorschlag noch zu seinen Lebzeiten gefolgt, als er in seinem Buch "Roland Barthes par Roland Barthes", deutsch "Über mich selbst", eben solche Biografeme auf fast zweihundert Seiten zusammengestellt hat. Fragmente, die sich seiner Kindheit, seinen Vorlieben, seiner Arbeit widmen, ergänzt durch Fotos und Abbildungen, die keineswegs als Illustrationen misszuverstehen, sondern integraler Bestandteil des Textes sind: Schnittstellen, an denen die Schrift ins Bild oder in die Zeichnung übergeht und umgekehrt. Damit diese Fragmente nicht als Enthüllungsliteratur gelesen werden, steht dem Buch zudem die Aufforderung voran:
    "All dies muss als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson gesagt wird."
    Das ist natürlich eine Anweisung, die den spielerischen Zugang des Lesers und seine Lust am Text, um einen berühmten Titel von Barthes zu nennen, fördert.
    "Eindruck falscher Evidenz vermeiden"
    Die Biografin aber steht vor einer doppelten Aufgabe. Sie muss einerseits Barthes' Vorliebe für das Fragmentarische, das Offene und seine Abneigung gegen das, was er einmal den "arroganten Diskurs" genannt hat, sehr ernst nehmen. Zugleich aber muss sie uns ein Bild dieses Autors liefern, das mehr als impressionistisch ist und den Strukturen, die seiner Arbeit und seinem Leben möglicherweise zugrunde liegen, auf die Spur kommt. Dabei muss sie sich nota bene davor hüten, dieser Arbeit und diesem Leben einen gleichsam schicksalhaften und sinnerfüllten Verlauf zu unterstellen – bei einem Autor, dessen Streben sich explizit auf die "Befreiung vom Sinn" richtete. Kurz, die Biografin muss uns mehr liefern als Biografeme, darf aber nicht in die Falle tappen, uns Barthes zu erklären, sondern muss ihn uns zeigen. Die Prinzipien, nach denen sie das versucht, legt sie in ihrer Einleitung offen:
    "Das vorliegende Buch folgt in seinem Verlauf der Chronologie, doch werden wir, um den Eindruck falscher Evidenz zu vermeiden, die strenge Jahresabfolge durch andere Prinzipien lockern: Parallelen zwischen Barthes und für sein Leben entscheidenden Wegbegleitern werden es hier und da erlauben, bestimmte Motive anhand von Begegnungen und nicht nur gemäß der Jahresabfolge zu behandeln."
    Um den Eindruck falscher Evidenz zu vermeiden – das heißt also: um das Leben und das Werk nicht auf eine Verlaufsform zu reduzieren, die sich schnell nach einem der gängigen Muster, etwa dem psychoanalytischen oder dem marxistischen, interpretieren ließe. Dabei bieten sich schon die Lebensumstände des ganz kleinen Roland Barthes dafür geradezu an, das Faktum der Vaterlosigkeit nämlich. Bekanntlich ist Barthes' Vater, Offizier der Handelsmarine und im Ersten Weltkrieg selbstverständlich zur Kriegsmarine eingezogen, bei einer Seeschlacht im Pas-de-Calais ums Leben gekommen; da war sein Sohn elf Monate alt. Geboren in Cherbourg, hat er nach eigenen Worten buchstäblich nie einen Fuß in die Stadt gesetzt, weil er damals noch nicht laufen konnte. Bevor er das lernte, zog seine Mutter Henriette mit ihm zur Verwandtschaft – zur väterlichen wohlgemerkt – nach Bayonne, in den französischen Südwesten, den Barthes zeit seines Lebens als seine Landschaft betrachtet und über den er Texte und Fragmente voller Zärtlichkeit geschrieben hat, in etwa so:
    "Bayonne, Bayonne, vollkommene Stadt: am Fluss liegend, durchweht von klangreicher Umgebung (Mousserolles, Marrac, Lachepaillet, Beyris) und dennoch eine eingeschlossene Stadt, romanhaft: Proust, Balzac, Plassans. Erstes Imaginarium der Kindheit: die Provinz als Schauspiel, Geschichte als Geruch, die Bourgeoisie als Redeweise."
    "Eine Haltung des Ausweichens"
    Kleiner Exkurs: Dieses Fragment aus einer der ersten Seiten von "Über mich selbst" reicht völlig aus, um die so oft gestellte Frage zu beantworten, was denn dieser Roland Barthes nun eigentlich genau war: Philosoph, Linguist, Semiologe, Kulturwissenschaftler, Literaturkritiker, Literaturwissenschaftler, Strukturalist, Biograf? Die Antwort ist einfach: Roland Barthes war Schriftsteller, dessen bevorzugte, aber nicht ausschließliche Formen der Essay im Wortsinn war - also der Versuch, jene sich vorantastende Sprache, die sucht, ohne von vornherein zu wissen, was sie finden wird. Der Gegensatz dazu wäre das Thesenpapier, das fertige Gedankengebäude. Das ist das Geschäft der Meisterdenker, und ein solcher war Barthes nicht. Er war nicht einmal ein Experte, zu seinem Glück und zum Glück seiner Leser.
    Ende des Exkurses. Tiphaine Samoyault liest Barthes' Vaterlosigkeit so:
    "Keinen Vater zu haben, der getötet werden muss, kann von Vorteil sein. Aber es determiniert auch eine Haltung des Ausweichens, einen komplexen Bezug zu Konfrontation und Subversion."
    Ein Hinweis, der für die weitere Entwicklung von Barthes sehr wichtig ist. Gegen Ende seines Lebens, als vorletzte Vorlesung in seiner viel zu kurzen Zeit am Collège de France, sprach Barthes über das Neutrum. Gemeint war damit nicht das grammatische Geschlecht, sondern der sogenannte "dritte Begriff", der das Prinzip des "Entweder oder" unterläuft, und der anhand verschiedener Phänomene erörtert wird: etwa das Wohlwollen, das Zartgefühl, das Schweigen, der Schlaf, der Rückzug. Das Neutrum unterläuft auch die binäre Opposition des Strukturalismus, dem Barthes ja lange zugerechnet wurde. Roland Barthes: Vers le neutre heißt ein leider immer noch nicht ins Deutsche übersetztes Buch von Bernard Comment, also Roland Barthes: Auf dem Weg zum Neutrum. Samoyaults nicht aufdringlich propagierter, aber umso konsequenter verfolgter Ansatz in ihrer Biografie ist es gerade, diesen Weg nachzuzeichnen.
    Künstlerkrankheit par excellence
    Ein Weg, der außer durch die Vaterlosigkeit auch durch ein anderes Ereignis in Barthes' früher Lebensphase geöffnet wird, den Ausbruch der Tuberkulose. Im Mai 1934, achtzehn Jahre alt, hat er den ersten Bluthustenanfall. Hier wird noch keine Tuberkulose diagnostiziert, aber Barthes muss zur Kur und sein Abitur verschieben. Das ist eine erste einschneidende Erfahrung mit der Krankheit und mit ihren sozialen Folgen. Später werden jahrelange Aufenthalte in Sanatorien folgen. Die Tuberkulose wird ihm den Zugang zur École Normale Superieure in der Pariser Rue d'Ulm verwehren. Damit ist ihm der übliche Weg der französischen intellektuellen Elitezüchtung versperrt, wie ihn etwa Michel Foucault beschritten hat und Jahrzehnte später auch Tiphaine Samoyault, die Autorin dieser Biografie.
    "Diese Erfahrung von Abgeschiedenheit ... stellt die Weichen für sein späteres Leben: für seine Marginalität, sein Gefühl der Hochstapelei, seine Zuflucht in die Literatur und das Schreiben. (...) Während er darunter leidet, nicht den ihm gebührenden Platz einnehmen zu können, erfindet er Orte anderer Art, im Abseits oder am Rande, wo er der sein kann, der er zu werden hofft. (...) Unzweifelhaft ist die Tuberkulose das Ereignis seines Lebens."
    Sie ist natürlich auch ein Mythos, was der künftige Autor der Mythen des Alltags sehr wohl weiß. Sie ist die Künstlerkrankheit par excellence und vielfacher Gegenstand der Literatur. In seiner ersten Vorlesung am Collège de France,Wie zusammen leben, wird Barthes ausführlich auf die Lebensform des Sanatoriums eingehen, anhand eigener Erfahrungen und natürlich anhand der Lektüre von Thomas Manns Zauberberg. Daran, dass diese Lebensform, die er selbst über Jahre sowohl genossen wie erlitten hat, aber sein Denken und sein Verhalten in der Öffentlichkeit schon Jahrzehnte vorher geprägt hat, lässt Samoyault keinen Zweifel:
    "Die Paradoxie des Ortes (der Abgeschiedenheit schafft und zugleich zum Gemeinschaftsleben zwingt) unterstreicht eine bereits bestehende Widersprüchlichkeit in Barthes' sozialem und politischem Verhalten: einen starken Wunsch nach Zugehörigkeit, doch ohne vollständige Teilnahme, eine distanzierte Parteinahme statt eines wirklichen Engagements. Dieses Moment wird sicherlich noch dadurch verstärkt, dass Barthes während des Krieges, in der Besatzungszeit, im Abseits lebt."
    Erfahrungen in der Résistance
    Das erschwert nach dem Krieg zumindest den Anschluss an den herrschenden politischen Diskurs und an Generationsgenossen, die Erfahrungen in der Résistance gemacht haben. Später wird er sich meistens weigern, politische Aufrufe, Appelle und Manifeste zu unterschreiben. Er passt immer auf, nicht der doxa zu verfallen, also dem jeweils herrschenden Diskurs, der herrschenden Meinung, die sich nicht so sehr durch ihren Inhalt, sondern durch ihre ständige Wiederholung durchsetzt.
    Barthes bahnt sich seinen Weg ins Zentrum der Pariser Intellektuellenszene, der er spätestens ab den sechziger Jahren angehören wird, im doppelten Sinn vom Rande aus, geografisch wie von den Institutionen her betrachtet. Er arbeitet zunächst am Französischen Kulturinstitut in Bukarest und ist sogar für kurze Zeit Französischer Kulturattaché. Danach ist er an der neu gegründeten französischen Bibliothek in Alexandria tätig. Erst 1950 kehrt er nach Paris zurück und wird nun an verschiedenen Hochschulen ein durchaus überzeugender und beliebter Lehrer sein. Zahlreiche Freunde bezeugen, dass Barthes gern gelehrt hat, und die Zahl seiner Studenten, die ihm in ihrer späteren Arbeit Reverenz erwiesen haben, ist beachtlich. Dabei war es gerade seine Suche nach dem nichtautoritären Diskurs, die seine Wirkung ausmachte. Die Stadien seiner Lehrtätigkeit hat er ganz am Ende der berühmten Antrittsvorlesung am Collège de France so charakterisiert:
    "Es gibt ein Alter, in dem man lehrt, was man weiß; doch danach kommt ein anderes, in dem man lehrt, was man nicht weiß: das nennt man Forschen. Es kommt jetzt vielleicht das Alter einer anderen Erfahrung: der des Verlernens ... Diese Erfahrung hat, glaube ich, einen berühmten und altmodischen Namen, den ich hier ohne Komplexe am Kreuzungspunkt seiner Etymologie aufzugreifen wage: Sapientia: keine Macht, ein wenig Wissen, ein wenig Weisheit und so viel Würze wie möglich."
    Den Ruhm genossen
    Das ist 1977, als all seine Umwege und Abweichungen, die erzwungenen wie die bewusst gewählten, ihn schließlich bis zur prestigereichsten Adresse des intellektuellen französischen Betriebs geführt haben. Es war Michel Foucault, der seine Berufung an das Collège am hartnäckigsten betrieb. Das war ein hartes und langwieriges Stück Arbeit, weil es innerhalb der Institution gegenüber diesem merkwürdigen Künstler-Wissenschaftler Roland Barthes, von dem man nie genau wusste, womit er sich als nächstes beschäftigen würde, erhebliche Vorbehalte gab. Samoyault widmet dem Verhältnis von Barthes und Foucault gegen Ende ihrer Biografie ein eigenes Kapitel, in dem sie ihre Gegensätze und Gemeinsamkeiten herausarbeitet und beiden Polen Gerechtigkeit widerfahren lässt.
    "Der besondere Platz dieser beiden Denker im Schlagschatten der Sechziger- und Siebzigerjahre erklärt sich zum Teil dadurch, dass ihr Werk die Form einer Doxa angenommen hat, gegen die sie stets angekämpft haben. Beide kennen den Mechanismus dieser Umkehrung, den Barthes explizit kritisiert hat. Der Viersilber "Barthes und Foucault" steht für eine Epoche, für die Ausstrahlung des französischen Denkens, die Erneuerung der Humanwissenschaften, für einen Moment, in dem die Theorie "große Namen" oder "große Figuren" hervorgebracht hat."
    Barthes und Foucault, um den Viersilber noch einmal aufzugreifen, waren zu ihrer Zeit in der Tat Medienikonen. Eine solche Position geht immer, darauf verweist Samoyault, auf Kosten einer Reduktion und Simplifizierung des Werks. Sie entbehrt außerdem gerade im Fall Barthes, der auf seiner Marginalität beharrte und den Schriftsteller als "Mensch des Zwischenraums" definierte, nicht einer gewissen Ironie. Dabei kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Roland Barthes, der durch seine Krankheit beinahe frühzeitig aussortiert worden wäre, den Ruhm genossen hat, und mindestens ebenso die finanzielle Sorglosigkeit, die damit verbunden war, nach den Erfahrungen einer eher durch permanenten Geldmangel gekennzeichneten Jugend. Es ist auch nicht ohne Symbolwert, dass Barthes' Mutter, mit der er fast sein ganzes Leben lang zusammenlebte, die Rumpffamilie anfangs mit ihrer Arbeit als Buchbinderin ernährte.
    Wie ein Medienstar
    Die strahlenden Helden der französischen Theorie, Barthes und Foucault, verband aber noch mehr als der Status von Medienstars.
    "Das hat mit der (relativen) Marginalität zu tun, die durch ihre Homosexualität bedingt ist: Ihre kritische Intelligenz führte sie dazu, ihr Begehren nicht vom Objekt ihrer Studien zu trennen und die Homosexualität nicht als Orientierung zu begreifen, sondern als eine Art und Weise, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Das trifft dem Anschein zum Trotz für Barthes vielleicht noch in stärkerem Maße zu als für Foucault. Wenn er im Gegensatz zu Foucault seine Sexualität nie zu einem Thema der Forderung oder des Kampfes machte (...), so hat er doch etwas sehr weit vorangetrieben, das seinem kritischen Programm entsprach: die Ablehnung des 'Natürlichen', des Selbstverständlichen, der als gegeben erscheinenden bürgerlichen Ordnung, aber auch die Vorliebe für das Fragmentarische, das Indirekte, die Entscheidung für eine alternative, der Logik, Kontinuität und Progression widersprechende Schreibweise."
    Das Lesen gelehrt
    Es ist ganz wesentlich diese Schreibweise, die Roland Barthes, der ja das digitale Zeitalter nicht mal mehr in den Anfängen erlebt hat, heute noch zu unserem Zeitgenossen macht. Seine Texte haben den Gestus der Meisterdenker weit hinter sich gelassen und ringen auch nicht mehr um eine Totalität, um die es noch Sartre ging. Diese Meisterdenker, das wissen wir heute, haben die Intellektuellen damals mit Haut und Haaren vereinnahmen wollen und uns zum Teil in tödliche Sackgassen geführt. Barthes Texte wollen den Leser nie vereinnahmen. Barthes schlägt eine Lektüre vor, die "fortwährend den Kopf hebt, um zu träumen", die sich also jederzeit vom Text lösen, eigene Wege gehen und dann wieder zum Text zurückkehren kann. So hat er nach eigenem Bekunden auch selbst gelesen.
    "Ich bin ein ungezwungener Leser, insofern ich schnell das Maß meiner Lust anlege. Im Verhältnis zu Büchern befreie ich mich immer mehr von jeglichem Über-Ich."
    Roland Barthes, so steht es im Klappentext der Biografie von Tiphaine Samoyualt gleich am Anfang, habe die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Lesen gelehrt. Ob das wirklich für die ganze Welt gilt, sei dahingestellt, uns aber, die wir mit seinen Büchern groß geworden sind, hat er es in der Tat gelehrt. Und mehr: Er hat den Leser von der Vormundschaft des Autors befreit und die langweilige Schulfrage, was der Autor sagen wollte, durch die viel spannendere und wichtigere Frage abgelöst, was der Leser versteht. Er hat uns als Leser also vom Über-Ich befreit und uns die Lust am Text gebracht. - 1971 hat Barthes in einem Interview gesagt, jede Biographie sei ein Roman, der es nicht wage, seinen Namen zu nennen. Da eine Biographie um die erzählerische Form nicht herumkommt – jene Form, die Barthes in seinem Debüt Am Nullpunkt der Literatur so konzis analysiert hat – kann man diesem Satz die Wahrheit nicht ganz absprechen. Wenn es sich also auch bei Tiphaine Samoyaults Biografie so verhält, dann darf man immerhin sagen, dass ihr Buch überaus lesenswert und – auch dank der Übersetzerinnenleistung – ebenso lesbar ist. Noch Besseres lässt sich über eine Arbeit von so immensem Umfang wohl kaum sagen. Man könnte noch hinzufügen, dass dieses Buch ein absolutes "Muss" ist – aber dann wäre das Über-Ich aus dem Hinterhalt zurückgekehrt, und das hätte Roland Barthes gewiss nicht gefallen.
    Tiphaine Samoyault: Roland Barthes. Die Biographie.
    Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle und Lis Künzli.
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 870 Seiten, geb., 39,95 €.