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Tod am Strand

Das Gesicht ist dem Meeresgrund zugewandt. Sie schwimmt mit dem Rücken zur Oberfläche, die Beine leicht gespreizt. Die schweren Hände scheinen auf etwas weiter unten zu deuten, aber nicht sehr bestimmt. Violette Male rund um den Hals und vielerlei Verletzungen, die ihr von Garnelen und Krebsen an den zartesten Stellen zugefügt wurden, an den Brüsten, an den Wangen. Und doch sieht es trotz alledem so aus, als ob sie lächelt.

Elke Biesel | 27.01.2004
    An der korsischen Küste treibt die Leiche einer jungen Frau. Auf seiner Reise durch das Meer begegnet ihr Körper nicht nur Fischen und Krebsen, sondern auch Menschen in völlig unterschiedlichen Lebenslagen, die ihn gleichsam weiter reichen. Hat einer von ihnen etwas mit dem Tod der jungen Frau zu tun?

    Nicolas Michel, ein junger französischer Autor, der mit "Emilies letzte Reise" seinen zweiten Roman vorlegt, erzählt die Geschichte der schönen Emilie rückwärts. Wie in einem Kriminalroman verfolgt der Leser den Weg der Leiche zurück bis zur Lebensgeschichte Emilies und ist dabei immer auf der Hut, ihren Mörder zu entlarven.
    Die Idee, die am Anfang dieses Buches stand, war die des rückwärts erzählten Romans. Von dem Moment an, da man am Leben ist, geht man auf ein unabwendbares Ende zu, manche Menschen machen sich das nicht klar. (…) Indem ich die Geschichte rückwärts erzähle, weise ich darauf hin, dass man das Leben verkehrt herum lesen muss: Mit der Idee im Kopf, dass es nicht dauern wird.

    Für die Menschen, die Emilies Leiche sehen, wird die Begegnung jeweils zu einem Wendepunkt in ihrem Leben. Die Konfrontation mit dem Tod zwingt sie zu einer Konsequenz.

    Es sind Menschen in einer Lebenskrise und das Zusammentreffen mit dem toten Körper ermöglicht es ihnen, eine Wahl zu treffen, denn sie erkennen plötzlich das, was auch für sie am Ende stehen wird: den Tod. Emilie hilft ihnen dabei, sich darüber bewusst zu werden und eine Entscheidung zu treffen.

    Die Geschichte Emilies ist wie eine Kette, die die einzelnen Schicksale und Situationen zusammenhält: eine Liebesgeschichte, ein Raub, eine missratene Ehe, den harmlosen Ausflug eines Insektensammlers. Dabei nähert sich der Leser langsam der Hauptperson. Emilie, die Trapezkünstlerin, die trotz eines Herzfehlers nicht vom Fliegen lassen kann, die sich lossagt von ihrer Familie und mit ihrem Geliebten Léo in einem kleinen Zirkus um die Welt fährt. Springen, fliegen, fangen. Ein Leben zwischen Himmel und Erde, behände, gefährlich und schnell.

    Emilie ist ein Mädchen, das sehr schnell leben und das Leben so gut wie nur möglich nutzen musste. Auch wenn sie tot ist, so ist sie es doch noch nicht so ganz. Und deshalb beschreibe ich ihren Körper wie den einer schönen jungen Frau, die vor allem, immer noch lächelt (…) weil sie ihr Leben so intensiv und so lange, wie es ihr möglich war, gelebt hat.

    In seinem Stil nimmt Nicolas Michel die anmutige Profession seiner Protagonistin auf. Wie ein Trapez so leicht schwingen manche seiner Sätze und die Erzählung gewinnt gerade gegen Ende unwirklich traumhafte Züge und einen unwiderstehlichen Sog. Immer weiter lesen möchte man in dieser leichtfüßigen Erzählung, in der Nicolas Michels Bewunderung für den magischen Realismus eines Gabriel Garcia Marquez oder Carlos Fuentes an mancher Stelle durchscheint.

    Ich mag es, wenn ein Roman einen Ausgangspunkt hat, der nicht hundertprozentig realistisch ist. Eine Leiche, die von einer Hand in die nächste wandert, das ist nicht wirklich plausibel, aber ich glaube, dass es besser gelingt, die Realität zu übersetzen, wenn man sich in der Literatur nicht realistischer Elemente bedient. So entsteht eine Realität, die in den Traum oder den Wahnsinn umschlagen kann.

    Dem kruden, sozialkritischen Realismus eines Michel Houellebecq, der in den letzten Jahren nicht nur in Frankreich Furore machte, kann Michel nur wenig abgewinnen. Zwar habe er manches mit Vergnügen gelesen, doch gehe ihm diese Form des Realismus zu sehr vom Ego, von der eigenen Person aus. Michel interessiert diese Perspektive nicht, er sucht für seine Romane einen möglichst weit entfernten Blickwinkel: Zum Beispiel indem er eine weibliche Erzählerin benutzt.

    Ich schreibe keine Thesen-Romane. Das Einzige was mich interessiert, ist, eine Geschichte zu erzählen. Ich will keine Ideen in einem Roman verbreiten. Ich ziehe es vor, einem Traum oder ein Gefühl lebendig werden zu lassen.

    Mit jedem Buch, so Michel, könne der Autor, aber auch der Leser, ein oder gar mehrere Leben hinzu gewinnen. Das sei doch die interessanteste Macht der Literatur gegenüber dem Gerede von Philosophie und Theorie: Sie könne Geschichten aus dem Leben erzählen und sie zum Leben erwecken.

    Nicolas Michels nächster Roman, der, wie er sagt, stark beeinflusst ist von einem langen Aufenthalt in Afrika, wo er auch "Emilies letzte Reise" geschrieben hat, handelt von einem blauen Mädchen. Man darf ihn mit Vorfreude und Spannung erwarten.

    Nicolas Michel
    Emilies letzte Reise
    Klett-Cotta, 159 S., EUR 16,-