Donnerstag, 25. April 2024

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Tod den Ärtzten

An manchen Tageszeiten empfiehlt sich das Einschalten des heimischen Fernsehgerätes für Menschen mit hypochondrischen Neigungen nicht. Vorzugsweise zwischen Abendessen und Schlafengehen kann der potentielle Kranke - jeder Gesunde ist ein solcher - aus einem reichhaltigen Angebot an tödlichen Krankheiten, Unfällen und Schicksalsschlägen auswählen und sich davon in schlechte Träume wiegen lassen. Arztserien gehen immer - eine der wenigen Gewißheiten einer ansonsten unkalkulierbaren Branche. Aber warum, fragt man sich, glauben die Leute, in breiter Mehrheit Atheisten, jeder huldvollen Geste eines Arztdarstellers mehr als einem echten Geistlichen? Daß ein Arzt, vorzugsweise in Krankenhäusern, notorisch übermüdet, schlecht gelaunt und in einer harschen Hierarchie weitgehend entmündigt ist, sieht man in diesen Serien nie. Als direkte Erben der Heftromane transportieren sie ein Mediziner-Image, das von keinerlei kritischem Blick getrübt wird. Allerdings sind Heftromane etwas Peinliches, das man tunlichst meidet, während Fernsehen ubiquitär ist; die Arztserien haben das Peinliche gewöhnlich gemacht, das ist ihr fataler Erfolg. Höchste Zeit also für eine Demontage falscher Götter oder zumindest der Inszenierung falscher Göttlichkeit. "Nicht Neues!" wendet der belesene Literaturfreund ein; zu allen Zeiten haben Ärzte auch im Fokus kritischer Literatur gestandenn. Nein - nichts Neues ist zu verkünden, sondern nur etwas Wiederaufgetauchtes. Das hat indes dreißig Jahre Lagerung bestens überstanden und wirkt, als sei es eine Antwort auf die Fernse-härzteschwemme.

Florian Felix Weyh | 01.01.1980
    1967/68 las der Schriftsteller Walter Erich Richartz aufmerksam und fleißig viele, viele Fachzeitschriften und medizinische Journale. Er suchte Beweise. Beweise dafür, daß die Ärzteschaft eine kriminelle Vereinigung sei, mit dem Ziel, die Menschheit zu verstümmeln und zu unterjochen. Es dauerte nicht lange, bis er fündig wurde, im Anhang seines Textes finden sich 168 Quellenangaben. Denn sein Roman "Tod den Ärtzten" - in Wahrheit ein furioses, collagiertes Pamphlet - erzählt von nichts, was es nicht gibt. Vor dreißig Jahren stand die Medizin im Zenit des Machbarkeitswahnes. Christian Barnard hatte eben das erste Herz transplantiert, der Krebs galt als lösbares Problem, die Infektionskrankheiten waren so gut wie ausgerottet und von Aids und Rinderwahn mochten nicht einmal die größten Pessimisten träumen. Obwohl seither an Rückschlägen kein Mangel war, scheint die Hybris der gesammelten Zitate keineswegs veraltet. Man erkennt in jeder Zeile die Ärzte wieder, wie sie fröhlich bis zum heutigen Tag den Glauben an die Heilbarkeit der Welt aufrechterhalten. Was Richartz macht, ist außerordentlich böse - und das tut außerordentlich gut. Er dreht den Ärzten und ihrem ausgeprägten Jargon nicht einmal die Worte im Munde herum, sondern setzt schroff Kante an Kante Sätze gegeneinander. So entsteht eine Welt, in der amputiert und experimentiert und das berühmt-berüchtigte Krankengut zum Baustein einer monströsen Wissenschaftsdiktatur wird. Mit diebischer Freude ana-lysiert er die Chirurgie als bäuerliche Arbeit, die jahreszeitlichen Schwankungen unterliegt. Im Herbst etwa sei Abschneiden, Hacken und Zersägen angesagt - gleich der Holzarbeit auf dem Lande. An absurden Stammbäumen sprießen Fleischärzte, Rumpfärzte, Brunstärzte und Mastärzte, wobei Richartz den Arzt grundsätzlich mit "t-z-t" schreibt, damit sein "scharfes Wesen" deutlicher hervortrete. Das ist als kleiner Kalauer natürlich auch dem eigenen Namen geschul-det, der Richartz ist zwar kein Rich-artzt, sondern nur Chemiker - als solcher aber vertraut mit dem Denken in Hörsälen und Labors. Vielmehr: Er war es, denn zwölf Jahre nach dieser Abrechnung nahm er sich das Leben. Unter diesem Gesichtspunkt lesen sich die Abschnitte über die Psychiatrie und den Wahn, der Seele chemisch beizukommen, besonders aufschlußreich.

    Nur in einem Punkt ist "Tod den Ärtzten" tatsächlich ein literarisches Dokument: Dieses Genre wird heute nicht mehr geschrieben. Man denkt sofort an Alexander Kluge, ein bißchen auch an den "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt", an die Realismusforderungen der späten Sechziger. Wahrscheinlich wäre ein ähnlicher Text mit aktuellen Zitaten wesentlich stumpfer als dieses dreißig Jahre alte Pamphlet. Die Choreographie der Worte tritt ungleich schärfer ins Bewußtsein, wenn sich die Worte ein wenig vom Alltagsgebrauch entfernt haben. "Tod den Ärtzten" ist von der Zeitsatire zum literarischen Kunstwerk geworden, ohne an Biß einzubüßen. So mancher Autor mag sich eine solche Rezeptionsgeschichte erträumen.