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Tod des Lehrjungen

Benjamin Brittens Oper "Peter Grimes" zeichnet sich durch eine thematische Vielfalt aus: von Kindesmisshandlung bis zu gesellschaftlicher Kontr0lle reicht die Bandbreite. Auch stilistisch ist sie ungemein vielfältig. Doch das Orchester in Düsseldorf trotzt den Stürmen.

Von Christoph Schmitz | 19.09.2009
    Benjamin Britten erzählt ja in seinem Opernerstling aus dem Jahr 1945 vieles gleichzeitig: vom harten Leben der Menschen in einem britischen Fischerdorf um 1900, von derben Späßen in der Hafenkneipe, der allgegenwärtigen Kontrolle des Einzelnen durch die Gesellschaft, von religiösem Eifer, von Armut und Erfolgsstreben, vom einsamen und verhaßten Außenseitertum des Titelhelden Peter Grimes, von Kinderausbeutung, Kindesmißhandlung, Kinderschändung, Pädophilie und unterdrückter Homoerotik. Und all das ist unterlegt von einem musikalischen Naturgemälde, das vom Meer, vom Licht und vom Sturm erzählt oder, wie hier, von einem "fine sunny morning", wie es im Libretto heißt.

    Dirigent Axel Kober, neuer Generalmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein, gestaltet die sechs instrumentalen Zwischenspiele, aber auch das ganze musikalische Geschehen hoch energetisch und trotz der dichten, oft kompakten und vertrackten Partitur wunderbar transparent. Vor allem gelingt es ihm und den Düsseldorfer Symphonikern, sich auf die Vielfalt der Stile dieser höchst eklektischen Oper einzulassen. Verdi, Weil, Berg, Schostakowitsch werden lebendig und doch klingt alles nach dem genialen Allesverwerter, der seine pädophile Neigung, seine Homoerotik und das zeitbedingte Leiden an ihr subtil im Werk versteckt hat.

    Die Stärke der Inszenierung von Immo Karaman zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er die gerade beschriebene thematische Vielfalt des "Peter Grimes" nicht auf einen Aspekt beschränkt hat, um eine flotten Effekt zu machen oder super zeitkritisch zu sein. Immo Karaman erzählt alles, vom Getuschel der Leute und ihren Mobbingaktionen, über den Kummer des Opfers, bis zum Leid des ausgenutzten Kindes, und das in einem sehr spannungsvollen dramatischen Bogen. Wobei er nicht unbedingt auf Realismus setzt. Vielleicht passiert alles nur in Grimes Kopf. Karamans Fischer sehen aus wie bizarre, von Panik und Missgunst gefangene Figuren aus einem schrillen Comic. Der Choreograph Fabian Posca hat sie zu Bilderfolgen einer expressiven Bildergeschichte arrangiert.

    Musik: "Old Joe ging fischen, und Young Joe ging fischen, und wer's kann, ging fischen, denn der Hering war da!"

    Der fantastische Chor unter Gerhard Michalski und das rundum fabelhafte Solistenensemble singen und spielen sich mitunter in eine Wildheit und Hysterie, dass einem im Zuschauerraum angst und bange wird. Gun-Brit Barkmin als sorgende Lehrerin verzweifelt mit silbernem Sopran über das Leid des von Grimes misshandelten Jungen.

    Musik: "Sturm und seine Schrecken sind nichts, wenn nicht das Herz verzagt, und nach dem Sturm, da kommt ein Schlaf, wie's Meer so tief, wie's Meer so tief."

    Und Roberto Saccà als Peter Grimes legt in seinen weichen und biegsamen Tenor alle Entschlossenheit und Sehnsucht des unverstandenen Menschen.

    Musik: "Im Traume baute ich mir ein schönes Heim, voll Wärme, voll Zufriedenheit und Ruhe. Dort gibt es dann keine Furcht und keinen Sturm."

    Ein Zuhause ohne Sturm besingt Grimes, obwohl er mitten im Sturm steht. Die überwältigende Bühne von Kaspar Zwimpfer zeigt das tosende Meer. Zuerst sieht man am Boden nur Bretter. Sie scheinen in den Orchestergraben zu fließen. Dann ist diese Bretterfläche, die sich als eine Reihung von hölzernen Haustüren mit Fenstern entpuppt, gewellt wie eine wogende See, die sich noch später aufwirft zu einer gewaltigen Tsunamiwelle, von der man schließlich meint, sie bräche in den Zuschauerraum hinein.

    Einen besseren Auftakt hätten der neue Generalmusikdirektor Axel Kober und der neue Generalintendant der Deutschen Oper am Rhein, Christoph Mayer, samt Team kaum hinlegen können.