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Tod in West Virginia

Nach dem College fing ich an, für die Village Voice in New York zu arbeiten und zwar als Kritiker. Eine Zeit lang habe ich Bücher besprochen, Film- und Fernsehkritiken geschrieben. Diese Arbeit für verschiedene Redaktionen sehe ich als meine Lehrzeit an und nach 4,5 Jahren hatte ich dann genügend Selbstvertrauen, nebenher auch noch etwas anderes zu schreiben. Als freier Journalist hatte ich eine Menge Freizeit. Wenn man schreibt, um seine Miete zahlen zu können, gewöhnt man sich zudem daran, sich hinzusetzen und fünf Stunden hintereinander weg zu arbeiten, bis der Artikel fertig ist. Man braucht ja was zu essen. Außerdem ist die Reaktion der Leser und Redakteure sehr lehrreich. Wenn man einen Artikel schreibt, der niemandem gefällt, wird man so nie wieder schreiben. Wenn dagegen ein Artikel für gut befunden wird und die Leute mögen ihn, dann fühlt man sich bestätigt. Ich denke, es ist ziemlich hilfreich, sofort eine Reaktion auf die Arbeiten zu bekommen.

Von Johannes Kaiser | 27.04.2004
    Die harte Schule des Journalismus scheint dem 33jährigen Colson Whitehead anfangs nicht viel genutzt zu haben, denn sein erster Roman, für Kurzgeschichten hat er nichts übrig, war ein absoluter Flop. Sämtliche Verlage lehnten ihn ab, sein Agent schmiss ihn daraufhin raus.

    Ich war sechs Monate lang deprimiert, blieb zuhause und sagte mir dann eines Tages: Also entweder machst du weiter oder du studierst Jura, wirst ein nützliches Mitglied der Gesellschaft. Da blieb ich dann doch lieber beim Schreiben und fing mit diesem merkwürdigen Buch über Fahrstuhlinspektoren an. Mir schwebte eine Parodie auf einen Krimi vor. Wenn man in New York mit seinen hohen Gebäuden aufwächst, sieht man überall diese Fahrstuhlzertifikate, aber der Fahrstuhlinspektor selbst ist eine geheimnisvolle Figur, weil man ihn nie zu Gesicht bekommt. Man hat keine Ahnung, was er eigentlich macht.

    So kam ich auf die Idee, einen Fahrstuhlinspektor zum Inspektor zu machen und einen Fall lösen zu lassen. Als ich mich dann mit Fahrstuhlinspektoren und Fahrstühlen befasste, wurde mir allerdings rasch klar, dass ein Fahrstuhlinspektor absolut nichts lernt, was ihm dabei helfen könnte, einen Fall zu lösen. Also ging es nur noch um Fahrstühle. Ich erfand zwei philosophische Schule, dachte mir eine Personalpolitik aus, eine Berufssprache und so weiter. Je glaubwürdiger diese, wenn auch absurde Fahrstuhlwelt wurde, desto mehr Themen boten sich mir an: wie z.B. die Idee des Fahrstuhls als Transformationsmaschine, die die Stadt in Wolkenkratzer verwandelt und damit neue Formen des Stadtlebens schafft.


    Der Roman Die Fahrstuhlinspektorin verschaffte Colson Whitehead nicht nur eine neue Agentin sowie einen Verlag, sondern auch freundliche Kritiken und einen Literaturpreis. So ermutigt wagte er sich an sein nächstes Projekt, einen Roman über einen amerikanischen Mythos, den schwarzen Eisenbahnarbeiter John Henry, der sich – so geht die Legende – um 1880 beim Bau eines Bergtunnels in West Virginia auf einen Wettstreit mit einer der ersten Bohrmaschinen einlässt. Er treibt zwar seinen Stahl schneller in den Boden als die Maschine, aber die unmenschliche Anstrengung kostet ihn das Leben. Kaum ist der Sieg errungen, fällt er tot um. Seitdem geistert John Henry durch die amerikanische Folklore. Zahlreiche Blues-Songs erzählen seine Geschichte, jeder anders.

    Die zahlreichen Lesarten der Legende verpackt Colson Whitehead in seinem 500 Seiten Epos in einen ganzen Strauss bunter Episoden, die wie Kurzgeschichten jede für sich stehen. Jeder zog aus John Henrys Wettkampf eine andere Lehre.

    Er hat die Bohrmaschine herausgefordert. Ist das nun frevelhafter Übermut oder ein Sieg des Individuums über das kapitalistische Systems? Für die Bohrhauer war er eher ein warnendes Beispiel: ‚Wir werden es nicht schaffen, das System zu besiegen. Uns bleibt nichts, als zu arbeiten und zu überleben. Mehr ist nicht drin.’ Für Folksänger, für Sozialisten in den 30er, 40er und 50er Jahren war er ein Held der Arbeiterklasse, der den üblen Kapitalisten bekämpfte. Ein anderes Beispiel kommt im Kapitel, in dem J. Sutters Tante in den 40er Jahren Klavier spielt. Sie gehört zur neuen schwarzen Mittelklasse in den Staaten und für ihre Mutter verkörpern John Henry und der Blues jene Musik, die man hinter sich gelassen hat. Man lernt gerade, Schubert und Mozart zu spielen und nicht diese Songs aus der Gosse. John Henry ist jetzt eine Figur aus der schwarzen Vergangenheit, der Volkstradition einer schwarzen Unterschicht, die von der neuen bourgeoisen Mittelklasse abgelehnt wird. So hat jede Generation ihre eigene Interpretation und die ändert sich ständig und ist schwer einzufangen.

    Der rote Faden, der durch den Roman führt und auf den diese Geschichten gezogen sind wie auf eine Perlenschnur, sind die Ereignisse während der Festivitäten zur Herausgabe einer Gedenkbriefmarke zu John Henrys Ehren. Die amerikanische Post hat tatsächlich 1996 in dem kleinen Ort Talcott, in dem der Wettstreit stattgefunden haben soll, eine solche Feier veranstaltet. Zu ihr reist zusammen mit einer Handvoll Kollegen auch der freischaffende schwarze Journalist J. Sutter an, ein Spesenritter, der von einem Public Relation Ereignis zum nächsten jettet, natürlich auf Einladung des Veranstalters und sich für ein paar lobende Zeilen in irgendeinem Presseorgan durchs Leben schnorrt.

    Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie im Unterschied zum Industriezeitalter ein Wanderarbeiter im Informationszeitalter aussehen würde und mir schien ein freier Journalist so eine Art von Tagelöhner für jede Gelegenheit zu sein. Er springt von einem Job zum anderen. Im Vergleich mit John Henry sind J. Sutter und seine Spesenritterkollegen ironische Helden. Das hat mir erlaubt, über den Alltagshelden nachzudenken. Es gibt heute keine Wettkämpfe mehr gegen Bohrmaschinen, niemand schreibt über uns Songs. Ich wollte herausfinden, ob es heute überhaupt noch eine heroische Tat gibt und wenn ja, wie sie aussehen könnte.

    Die Schreiberlinge, die sich da für freie Unterkunft und Verpflegung prostituieren, sind eher komische Karikaturen - ein gefundenes Fressen für einen so wortgewaltigen Fabulierer wie Colson Whitehead, über Amerikas sensationsgierige Medien– und ‚Event’-Landschaft zu spotten. Der Autor hat aber auch noch einen zusätzlichen Spannungsbogen geschlagen.

    Beim typischen John Henry Song wissen wir von der ersten Zeile an, dass er sterben wird, und er weiß das auch. Er singt ja immer: ‚Der Big Bend Tunnel wird mein Tod sein’. Ich wollte mit dieser Gewissheit spielen. Wir wissen, J. Sutter wird an diesem Wochenende irgendetwas Schreckliches zustoßen und dadurch sind wir gezwungen, darüber nachzudenken, ob wenigstens er seinem Schicksal entkommen kann, was John Henry ja nicht gelang. Gibt es für ihn eine Entscheidungsfreiheit, wie sie für den Volkshelden nicht existierte? Wir wissen also, es wird was Schlimmes passieren, aber nicht ob es J. Sutter treffen wird. Das gibt dem Ganzen eine besondere Form von Spannung.

    Zudem gibt es noch eine zarte Liebesgeschichte, denn J. Sutter trifft dort auf eine junge Schwarze, deren Vater John Henry Devotionalien sammelte. Diese Erinnerungsstücke sollen zum Grundstock eines John Henry Museums werden. Die Stadt Talcott will sie der jungen Erbin abkaufen. Doch die ist noch unentschlossen. J. Sutter verliebt sich in sie und muss sich nun entscheiden, ob er sein bisheriges völlig von der Wirklichkeit abgehobenes Leben aufgibt.

    John Henry und seine Kollegen sind arm und ungebildet in einem sich ändernden Land. Die Form, wie sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen, wird nicht mehr lange existieren und so erfahren sie eine Art von Entfremdung. J. Sutter und die Spesenritter verkörpern eine moderne Variante der Entfremdung. Sie können nicht mit anderen Menschen umgehen und sind - wenn auch in anderer Form - genauso paralysiert, wie es die ungebildeten früheren Sklaven waren. Sie sind gewissermaßen zu gelähmt, um sich und ihr Leben zu ändern, sich weiterzuentwickeln. Es ist eine andere Form der Entfremdung, aber man kann da durchaus eine Parallele ziehen.

    Colson Whitehead liebt solche Anspielungen und Parabeln, von denen ein deutscher Leser aber wohl nur einen Bruchteil mitbekommt. Zudem lässt sich der junge Schriftsteller bisweilen dazu hinreißen, seine Wortgewalt allzu selbstverliebt vorzuführen, mit Metaphern zu prahlen. Und dennoch stellt man sich erstaunlicherweise nie die Frage, was einen John Henry angeht. Gratulation.

    Colson Whitehead,
    John Henry Days
    Hanser, 527 S., EUR 24.90