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Tod, Spott und Wahn

Am Theater an der Wien wurde die Oper "Gogol" von Lera Auerbach uraufgeführt. Das Stück befasst sich mit dem verzweifelten russischen Dichter Nikolai Gogol in seiner letzten Lebensphase. Tod, Spott und Wahn begleiteten sein Leben – geeigneter Stoff für eine Oper.

Von Frieder Reininghaus | 16.11.2011
    Zu Beginn des Jahres präsentierte die Dirigentin, Komponistin und Musikwissenschaftlerin Pilar Jurado im Teatro Real Madrid eine große Phantastische Oper ("La página en blanco"), zu der sie Text und eine mit mancherlei Rückgriff auf ältere Kompositionstechniken operierende Musik schrieb und bei deren Uraufführung sie selbst auch eine der zentralen Partien sang. Mit der Pianistin, Komponistin, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Lera Auerbach ließ das Theater an der Wien ein vergleichbares Multitalent zum großen Zug kommen: Auch sie schrieb sich den Text für die von ihr komponierte Phantastische Oper selbst. Auerbach bekundete im Vorfeld der Wiener Premiere ihrer "Gogol"-Oper, dass Neue Musik sie langweile. Und sie meint es ernst mit der Restitution von Tonalität als Basis ihres historisch beschlagenen Schaffens.

    Noch entschiedener als Anno Schreier, dessen "Stadt der Blinden" am vergangen Samstag in Zürich herauskam, griff Lera Auerbach als Komponistin bei ihrer ersten großen Oper auf Schreibweisen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück, ohne diese einfach zu kopieren. In das reichhaltige Sortiment ihrer ererbten Bauelemente wurde die sentimentale russische Volksmelodie ebenso eingebracht wie die Fortschreibung rhythmisch pointierter grimassierender Schostakowitsch-Piècen und bewährte Patterns der Filmmusik älterer Bauart. Das historisch Geprägte wurde in ein kompositorisches Netzwerk sui generis eingebracht, also in mehr oder weniger starkem Maß anverwandelt, auch angereichert mit Klangfiguren und Effekten, wie sie sich am Ende des 20. Jahrhunderts eingebürgert haben. Interessanterweise operierte die Gesamtkunstwerkerin als Librettistin mit avancierten Modellen. Sie verzichtete auf lineare Handlung und narrativen Text, suchte Annäherung an Nikolaj Gogol mit lose gereihten Szenen und luftigen literarischen Metaphern, in denen zunächst eher allgemein die Lebenswelt des Autors und Außenseiters aufscheint – mit einem prächtig chorgestützten "Wiegenlied an den Mond", der, so das Libretto, in Hamburg hergestellt wird und daher aus russischer Sicht nicht wirklich taugt.

    Annäherung an Gogol erfolgt in Wien auch vermittels eines intensiven Blicks auf die Begegnung des Dichters mit dem Knabensopran Nikolka, der an Teufel und Hexen glaubt, die auch sogleich leibhaftig aufkreuzen, oder mit einer Vorschau auf die Testamentsabfassung und das Begräbnis. Der Autor der "Toten Seelen" hat von Seiten der Popen keine Vergebung seiner Sünden zu erwarten – eher hypothetische Sünden übrigens, deren Schatten ihn zunehmend bedrängen. Erst im dritten und letzten Akt geht es zur eigentlichen Dichterbiografie mit einer Szene zur völlig vergeblich bleibenden Brautschau Gogols und einem hübsch absurden Gerichtstermin. Verhandelt wird da, ob der Schriftsteller seine Heimat verraten habe, indem er finsterste Zeiten der russischen Geschichte emphatisch erörterte.

    Zu den altrussischen Winterkostümen von Kaspar Glarner, den uniformen Mützen in grellen Farben hat Johannes Leiacker ein einprägsames Winterbild kreiert: in der nach hinten ansteigenden Fläche zeichnen sich Aussparungen in Form liegengebliebener menschlicher Körper ab, deren Restwärme die dünne Schicht trockenen Schnees angetaut hat, bevor diese Stellen wieder zugefroren sind - sie dienen als Zugänge zur Unterwelt. Über dieser hellen Fläche mit den dunklen Flecken entfaltet die Inszenierung von Christine Mielitz fast durchgängig große Geschäftigkeit, bringt die Chöre betriebsam in Stellung und bietet, als wäre der Musik nicht über den Weg zu trauen gewesen, sogar einen Geigenengel aus dem Geiste Chagals, der am Firmament turnt.

    Da der für die Premiere vorgesehene Hauptdarsteller ausfiel, wurde seine ausladende Partie auf Martin Winkler und Otto Katzameier aufgeteilt. Beide haben sich tapfer durch das schwierige Terrain bewegt, sängerisch und als Darsteller eines sensiblen Intellektuellen. Anna Gorbachyova imponierte als eine der Bräute und als Nymphe mit irisierend schön gesungenen Höhen in einer von Vladimir Fedoseyev umsichtig-moderat geleiteten Aufführung.