Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


"Töten kann man eben auch mit kleinkalibrigen Waffen"

Der Bundesverwaltungsrichter Harald Dörig sieht zehn Jahre nach dem Amoklauf von Erfurt noch Defizite bei der Waffengesetzgebung. Der Vater zweier Überlebender bemängelt , dass Waffen nach wie vor zuhause gelagert werden dürfen - und dadurch zugänglich sind.

Das Gespräch führte Jürgen Linminski | 26.04.2012
    Jürgen Liminski: Erfurt und Winnenden stehen für dramatische Schockerlebnisse der Gesellschaft in Deutschland. Nach beiden Amokläufen gab es lange und heiße Diskussionen über die Regeln zum Waffenbesitz, über Präventionskonzepte gegen Jugendgewalt, über abstumpfende Wirkung von Killerspielen und vielen anderen Aspekten mehr. Hat sich etwas geändert? Der zehnte Jahrestag von Erfurt heute ist Anlass, Rückschau zu halten und Bilanz zu ziehen.

    Am Telefon begrüße ich Harald Dörig, er ist Richter am Bundesverwaltungsgericht und Vater von zwei Söhnen, die bei dem Amoklauf in Erfurt in der Schule waren. Guten Morgen, Herr Dörig.

    Harald Dörig: Schönen guten Morgen, Herr Liminski.

    Liminski: Herr Dörig, zehn Jahre – was hat sich in dieser Zeit Ihrer Meinung nach getan, vielleicht gebessert, oder ist diese Gesellschaft immer noch taub gegenüber solchen Verletzungen?

    Dörig: Es hat sich Einiges getan, aber meines Erachtens nicht genug. Es ist ja ein Problem, dass junge Menschen in der Pubertät ihre Grenzen ausprobieren müssen, oft Probleme haben, und da kümmert sich Familie, Schule, Gesellschaft zu wenig um diese jungen Leute. So war das auch seinerzeit bei dem Amoklauf in Erfurt. Das war sicherlich ein sehr ungewöhnlicher Schüler, der dies getan hat. Aber er war noch im Zweifel, ob er sozusagen die Negativkarriere einschlägt, oder an einer anderen Schule Unterschlupf findet, um dort seine Ausbildung abzuschließen, und hier hätte sozusagen die Gesellschaft, genauer gesagt die Schulverwaltung, dafür sorgen müssen, dass dieser junge Mann an dem neuen Gymnasium ankommt, ihn nicht alleine lassen, und das sind so Punkte, an denen mehr getan werden kann.

    Liminski: Das sind Versäumnisse, da kommen wir gleich zu. Sie haben mehrfach angeregt, die Waffengesetze zu verschärfen. Hat sich da etwas bewegt, wo sind die Widerstände?

    Dörig: Da hat sich etwas bewegt. Es sind kleine Korrekturen vorgenommen worden, die sollen auch gar nicht kleingeredet werden. Zum Beispiel muss man jetzt 21 Jahre sein und nicht mehr nur 18, wenn man großkalibrige Waffen erwerben will. Aber töten kann man eben auch mit kleinkalibrigen Waffen und meines Erachtens ist das entscheidende Problem, Waffen zuhause zu lagern. Dafür gibt es keine sachliche Rechtfertigung, denn die Sportschützen dürfen ja ihre Waffe auch nur auf dem Schießstand benutzen. Also sollten die Waffen auch dort gelagert werden, und wenn das der Fall wäre, wären die Amokläufe von Erfurt und Winnenden nicht möglich gewesen in dieser Form.

    Liminski: Nun hat die Brutalisierung von Gewalttaten Jugendlicher nicht nur zu tun mit dem Besitz von Waffen, Sie haben es ja eben auch angedeutet. Aus den Daten des Statistischen Bundesamtes geht ja auch hervor, dass die Zahl der Delikte der Jugendkriminalität leicht rückläufig ist, aber dass die Taten brutaler werden. Versagen hier nicht andere Schlüsselinstanzen im Vorfeld der Taten, eben Schulen oder Familien?

    Dörig: Es ist natürlich ganz schwer zu erkennen, wohin ein junger Mensch tendiert. Die Täter von Erfurt und Winnenden waren relativ unauffällige junge Männer. Die waren zwar nicht besonders gut in der Schule, die waren aber auch nicht die ausgesprochenen Rowdys. Also es ist ganz schwer auszumachen, wer zu solchen Taten neigt, und deshalb, glaube ich, ist es ganz wichtig, neben der Stärkung des Erziehungsauftrags der Familie und der Schule eben auch die Mittel wegzuschließen, mit denen solche Taten begangen werden können, denn wenn kein Zugang zu Waffen besteht, dann können in dieser Brutalität die Taten auch nicht ausgeführt werden.

    Liminski: In Sachsen, Herr Dörig, fand vor einem knappen Jahr ein Symposium statt unter dem Titel "Bindung, Bildung, Gewaltprävention". Es stand unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten. Was kann die Politik tun, um das Phänomen der Jugendgewalt in den Griff zu bekommen, oder um ein Umdenken in der Gesellschaft zu fördern?

    Dörig: Ganz wichtig sind beispielsweise Programme wie Schüler-Streitschlichter-Seminare, dass man also die jungen Menschen früh dazu befähigt, mit Konflikten umzugehen, dass auch die Mitschüler erkennen, wo Probleme bei einzelnen Schülern bestehen, dass sie die Schüler nicht ausgrenzen, sondern dass sie sie ansprechen und einbeziehen, denn die Mitschüler erkennen oft viel genauer und früher als Eltern und Lehrer, wo das eigentliche Problem liegt. Hier kann viel getan werden.

    Liminski: Entscheidet sich am Thema Jugendgewalt, ob wir auf dem Weg in eine repressive oder solidarische Gesellschaft sind?

    Dörig: Es ist jedenfalls ein Baustein und es ist ganz wichtig, diesen Baustein zu nutzen, denn in der Jugend prägt sich der Charakter und wenn junge Menschen hin zu Gewaltlosigkeit erzogen werden und dazu erzogen werden, umzugehen mit Problemen, die sie selbst haben, dann ist ein gutes Fundament für das weitere Leben gelegt.

    Liminski: Das war Harald Dörig, Richter am Bundesverwaltungsgericht und Vater von zwei Söhnen, die bei dem Amoklauf in Erfurt damals in der Schule waren. Besten Dank für das Gespräch, Herr Dörig.

    Dörig: Sehr gerne.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.