Freitag, 19. April 2024

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Tolstoi und andere Russen

Die November-Ausgabe von "Cinch" wirft einen Blick hinter die Kulissen der neuesten Hörspielproduktion des Deutschlandfunk: "Und das Licht scheint in der Finsternis" von Lew Tolstoi.

Von und mit Michael Langer | 13.11.2010
    Gerhard Ahrens hat dieses Tolstoi-Drama bearbeitet, Regie führte Elisabeth Panknin.

    Gerhard Ahrens:
    "Es handelt es sich um ein Fragment, ein Stück das Tolstoi nicht zu Ende gebracht hat und das aus guten Gründen, denn die Vollendung dieses Stückes hat er gelebt. Das Stück ist ja ein Stück Autobiographie. Es beschreibt den verzweifelten Versuch eines Menschen - das ist das Ebenbild von Tolstoi - die Welt zu verändern, mehr noch: sie umzustürzen, nicht weiter so zu leben, nach der Devise: Du mußt dein Leben ändern.
    Er möchte nicht mehr im Luxus leben. Es handelt sich hier um einen Gutsbesitzer - Tolstoi hat ja auch auf Jasnaja Poljana ein großes Gut verwaltet, das er später seiner Frau überschrieben hat, um kein Eigentum mehr zu besitzen - und darum geht es in diesem Stück: Der Mensch soll nur das besitzen, was er mit seiner Hände Arbeit erwirtschaftet. Das ist natürlich skandalös, der Mensch soll nicht von der Hände anderer Menschen leben, von diesem Mehrwert. Das ist ganz naiv gedacht aus den Postulaten der Bergpredigt, der Französischen Revolution, Urchristentum, Sozialismus, Das ist etwas Vorrevolutionäres, und nicht umsonst hat ja auch Lenin darüber geschrieben.

    Elisabeth Panknin:
    Das Zentrum des Stücks ist die Frage nach der Liebesfähigkeit und den Liebesmöglichkeiten der Menschen. Und die Liebe zur Menschheit scheint fast unvereinbar mit der Liebe zu seinen Kindern, zu seiner Familie, weil die immer voraussetzt, dass man für diese Liebe ganz handfeste egoistische Ziele hat und auch Schutzmechanismen braucht. Und hier ist ein Riss, der das Stück enorm spannend macht, und dieser Riss geht nicht nur seit Jesus Christus durch die Welt, sondern das ist etwas, was man in den antiken Tragödien ebenso findet, wie man auch heute darüber nachdenken kann, ob man privates Glück auf Kosten Anderer begründen kann.

    Gerhard Ahrens:
    Wenn sie einen solchen Anspruch in die Familie oder in die Gesellschaft tragen, dann passiert aber einiges! Da können Sie froh sein, wenn sie nicht kriminalisiert werden. Man hat ja den Tolstoi nur nicht verhaftet, weil er so unglaublich berühmt war in aller Welt durch seine Romane. Er war die moralische Instanz am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Da gab´s überhaupt keine Debatte. Sie müssen sich vorstellen: Ghandi hat mit ihm einen Briefwechsel gehabt und Lehren von Tolstoi aufgenommen. Aber das ist ein weites Feld."

    Außerdem erfahren wir mehr über den ersten russischen Literaturnobelpreisträger Ivan Bunin und seine Hommage an den hochverehrten Schriftsteller: "Tolstois Befreiung".

    Brigitte van Kann übersetzte und bearbeitete Bunins Hommage an Tolstoi für den Deutschlandfunk.

    Brigitte van Kann:
    Ivan Bunin ist 1870 geboren in einer Familie verarmter russischer Landadeliger. (Seit 1920 war er im Exil.)
    Als junger Schriftsteller hat er eine eine Freundschaft zu Anton Tschechow aufgenommen. Er war zehn Jahre jünger und hat ihn oft in Jalta besucht. Er hat darüber ein Werk begonnen, die Erinnerungen an seine Zeit mit Tschechow, über diesem Werk ist Bunin 1953 im französischen Exil verstorben. Dieses Werk habe ich für die Friedenauer Presse 2004 aus dem Russischen übersetzen dürfen. Und bei der Gelegenheit stieß ich auf Bunins Tolstoi-Buch, das er 1937 in Paris abgeschlossen hat. Es heißt Tolstois Befreiung, es ist irgendwie in Vergessenheit geraten, auch noch nie ins Deutsche übersetzt worden, und ich habe mich dann irgendwann daran gemacht, das in Teilen zu tun für das Hörbild, das der Deutschlandfunk daraus produziert hat.

    Es ist mitnichten ein lineares, stringentes Erinnerungswerk, sondern da geht es ziemlich bunt durcheinander: Erinnerungen an persönliche Begegnungen, an die Tolstoianer, die Tolstoijünger, zu denen Bunin in seiner Jugend selbst eine Zeitlang zählte, Anekdotisches, etwa darüber, was man sich in Moskau über die Familie Tolstoi erzählte.
    Für mich waren es aber auch Ausgrabungen aus Tolstois Werk. Zum Beispiel: Wer kennt zum Beispiel das ganz kurze Fragment des Versuchs einer Autobiographie? "Erste Erinnerungen" heißt das von Tolstoi. Das ist einfach ganz wundervoll, wie sich da der Tolstoi an seine früheste Kindheit erinnert: noch an die Zeit, wo er als Wickelkind im Bettchen lag oder in einem Trog mit Kleie als Waschzusatz gebadet wurde.

    Bunin packt vielleicht in dieses Buch ein wenig zu viel hinein: er versucht dem Tolstoi´schen Stammbaum nachzugehen, er geht den Besonderheiten der Tolstoi´schen Physiognomie nach - das ist ein Thema, das ihn immer sehr interessierte; er findet, dass Tolstoi aussieht wie ein Gorilla und reitet ein wenig auf diesem Thema herum. Doch die ganze Buntheit der Materialien schrie ja direkt danach, für den Rundfunk umgesetzt zu werden


    Und schließlich lernen wir den Komponisten und Hörspielmacher Werner Cee kennen, dessen Hörspiel "Die Winterreise" mit dem Prix Italia ausgezeichnet wurde.

    "Cinch" beginnt nach dem Samstagshörspiel, diesmal gegen 21.03 Uhr.