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Tom Lampert: Ein einziges Leben - Acht Geschichten aus dem Krieg

Die Entscheidung, die Geschichten als Erzählungen und nicht als konventionelle wissenschaftliche Analysen zu schreiben, braucht womöglich eine Erklärung. Mir scheint, dass die Form der Erzählung für das Thema geeigneter ist, weil in ihr die Komplexität und Ambiguität, die ich latent in den dokumentarischen Materialien fand, sich eher entfalten ließen. Dies konnte wieder dazu beitragen, dem Druck, "Farbe zu bekennen" oder "ein Zeichen zu setzen", welchem ein Autor bei der Behandlung solcher Themen ausgesetzt ist, zu widerstehen - Imperativen, die leicht zu erbaulichen Schematisierungen führen, die letzten Endes unsere Fähigkeit, konkret über das Phänomen Nationalsozialismus oder den Holocaust nachzudenken, erheblich beeinträchtigen. Moralisierende Wegweiser, die einen Menschen entweder als bösen Täter oder unschuldiges Opfer kennzeichnen - als wäre ein Opfer nationalsozialistischer Gewalt weniger Opfer, wenn man ihm moralische Verfehlungen oder menschliche Schwächen zugesteht -, stellen sicher, dass der Leser oder die Leserin das "richtige" Urteil fällt, verhindern jedoch ein differenzierteres Verständnis des Geschehenen. Die vorliegenden Geschichten versuchen ohne didaktische Vorkehrungen dieser Art auszukommen: "Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch."

Frank J. Heinemann | 05.11.2001
    Tom Lampert vermerkt das am Ende seines Bandes "Ein einziges Leben", in dem er - so auch der Untertitel - "Acht Geschichten aus dem Krieg" versammelt.

    Tom Lampert erzählt - so verspricht es der Untertitel seines Buchs - "Acht Geschichten aus dem Krieg". Doch der 39-jährige amerikanische Politologe, der in Berlin lebt, ist alles andere als ein Erzähler im herkömmlichen Sinn, ist vielmehr ein zeitgeschichtlicher Montage-Arbeiter. Er montiert und collagiert Auszüge aus Gerichts- und Verwaltungsakten, Tagebüchern und Briefen so, dass das alte Papier zu sprechen beginnt, mit nüchterner, Lebensläufe protokollierender Stimme. Eine der Geschichten von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus hat einen Protagonisten besonderer Art. Lampert reduziert die Unmenschlichkeit eines Konzentrationslagers auf ein deutsches Hundeleben:

    Ende 1942 wird R. ins Vernichtungslager Treblinka versetzt. Es handelt sich um einen kalbgroßen, schwarzweiß gefleckten Hund. In Treblinka schließt sich R. dem SS-Oberscharführer Kurt Franz an. Er sieht in ihm seinen Herrn. R. pflegt den Oberscharführer auf seinen Kontrollgängen durch das obere und untere Lager zu begleiten. Es kommt häufiger vor, dass R. von Franz mit den Worten "Mensch, fass den Hund!" auf jüdische Häftlinge gehetzt wird. R. geht aber auch ohne Befehl auf einen Häftling los, wenn Franz diesen nur anbrüllt. Er greift den betreffenden Menschen stets an. Da R. kalbgroß ist und mit seiner Schulterhöhe an den Unterleib eines durchschnittlichen Menschen heranreicht, beißt er häufig ins Gesäß und mehrfach auch ins Geschlechtsteil. Bei weniger kräftigen Menschen gelingt es R., den Angegriffenen zu Boden zu werfen und ihn zu zerfleischen. Ende November 1943 wird das Vernichtungslager geschlossen. R. wird nach Ostrow zu Dr. S., Chefarzt des dortigen Kriegslazaretts, gebracht. Nach einiger Zeit geht R. mit dem Arzt eine neue Hund-Herr-Bindung ein. Jetzt ist R. faul und gutmütig. Er liegt gewöhnlich unter oder neben dem Schreibtisch im Arbeitszimmer des Arztes. Im Lazarett Ostrow wird R. "das große Kalb" genannt. Er tut niemandem etwas zuleide.

    "Eine autoritäre Persönlichkeit" nennt Lampert diesen Text. Zumindest bei seinen Titeln und Zwischenüberschriften setzt er trotz aller Hingabe ans Aktenmaterial das Mittel der Ironie ein. Lampert hat aber nicht nur Adorno gelesen, sondern auch Ludwig Wittgenstein. In einem Interview mit der Zeitschrift "Literaturen" verwies er auf einen weniger bekannten Wittgenstein'schen Satz:

    Was der Leser auch kann, das überlass dem Leser.

    Tom Lampert will, wie er im Nachwort schreibt, mit seinen Geschichten keine vorgefasste These belegen. Er beschränke sein eigenes Urteil auf das Arrangement der Materialien. In eine erzählerische Form habe er sie gebracht, weil sich so die in ihnen verborgene "Komplexität" und "Ambiguität" eher entfalten lasse, als in einer wissenschaftlichen historischen Studie. Was also kann der vom Autor als Selbstdenker vorgestellte Leser beispielsweise aus der Biographie des Hundes R. herauslesen? Provoziert durch die Überschrift kommt der Gedanke auf, ob die politische Relevanz von Adornos sozialpsychologischem Konstrukt des "autoritären Charakters" nicht sehr begrenzt ist. Haben sich nicht viele nationalsozialistische Täter, als sich nach 1945 die gesellschaftlichen Bedingungen änderten, wie R. verhalten, der unter einem anderen Herrn vom mörderischen Untier zum freundlichen Kalb wurde? Die Ironie der Geschichte ergibt sich manchmal nicht nur aus der Überschrift, sondern auch aus dem Material. Lampert ist auf R. in den Akten des Düsseldorfer Treblinka-Prozesses von 1965 gestoßen. Natürlich wurde damals nicht der Hund angeklagt, sondern sein Herr, es ging darum, ob diesem das Verhalten des Tieres zuzurechnen war. Um das nachzuweisen, wurde als Gutachter jener berühmte österreichische Verhaltensforscher gehört, der 1938, nach dem "Anschluss", sofort in die NSDAP eingetreten war: Konrad Lorenz überzeugte das Gericht denn auch, dass ein Hund selbst unbewusst den Willen seines jeweiligen Herrn exekutiere. Wie ein böses Augenzwinkern des Autors wirkt der letzte Satz der Erzählung:

    1973 wird Konrad Lorenz der Nobelpreis für seine Forschung über tierisches und menschliches Verhalten verliehen.

    Lamperts Verzicht auf moralische Wegweiser betrifft nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer. Das wird deutlich an zwei Figuren: Einem schwer erziehbaren jüdischen Mädchen, das zunehmend mit den Gesetzen in Konflikt gerät, und einem jüdischen Großbürger, dessen Sinn für Gerechtigkeit und Ordnung auch in Ghetto und Lager ungebrochen bleibt und ihn in eine zweideutige Position zum herrschenden Unrecht bringt. Die Berliner Jüdin Mirjam P. war 1933 fünfzehn Jahre alt. Die vielen Stationen ihres achtjährigen Irrwegs in den Tod lassen sich so zusammenfassen:

    Schon im ersten Jahr des "Dritten Reichs" wandert P. mit ihrer Mutter und ihrem ungeliebten Stiefvater nach Palästina aus. Dort fühlt sich P., die bei den Großeltern aufgewachsen war, unwohl "wie in der Wüste". Sie arbeitet als Küchen- und Haushaltshilfe und begeht kleinere Betrügereien. Die Jugendfürsorge veranlasst die Untersuchung durch zwei Fachärzte. Diese diagnostizieren "schwere Psychopathie" mit "Defekten auf ethischem Gebiet". Wegen "starker Erotik" bestehe Gefahr sittlicher Verwahrlosung. Eine geeignete Anstalt für eine Behandlung sei in Palästina nicht vorhanden, deshalb P.s Überführung nach Deutschland dringend erforderlich. Zunächst kommt sie jedoch in ein privates Heim in Tel Aviv. Doch kaum entlassen, gerät sie wieder auf die schiefe Bahn, ein Gericht verfügt die Ausweisung. Im Herbst 1936 ist P. zurück in Berlin. Aus Furcht vor der Gestapo fährt sie nach Luxemburg, wird ausgewiesen, landet nach Stationen in Belgien und den Niederlanden in der Schweiz, wo sie einen Hotelbetrug begeht, deswegen eine kurze Gefängnisstrafe erhält und nach Deutschland abgeschoben wird. Dort lässt sie sich von mehreren nichtjüdischen Männern aufgabeln, einer von ihnen gerät in einen Prozess wegen "Rassenschande", bei dem sie ihn unnötig belastet. Sie selbst kommt wegen Diebstahls und Betrugs zweimal ins Gefängnis. Anschließend wird P. wegen angeblichen Schwachsinns und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit in eine Heilanstalt eingewiesen. Das besiegelt ihr Schicksal, denn inzwischen hat der Krieg begonnen, ein Versuch ihres leiblichen Vaters, sie doch noch nach Palästina zu holen, scheitert, und sie gerät in die Todesmühle der sogenannten Euthanasie. 1941 wird sie in die Tötungsanstalt Hadamar abtransportiert und ermordet.

    In dieser, vom Ende her gesehen entsetzlichen Geschichte ist es Tom Lampert besonders gut gelungen, dem Leser im Sinne Wittgensteins die Interpretation zu überlassen. Er soll sich einlassen können auf eine kommentarlos erzählte Vergangenheit. Sie wird rekonstruiert in einer Weise, die es dem Leser ermöglicht, sie so aufzunehmen, als wäre sie noch das, was sie einmal war: eine offene Gegenwart, Momentaufnahme in einem Handlungsverlauf, dessen Ende in jenem Moment noch offen war. Zum Beispiel das Verhalten der beiden jüdischen Ärzte im Palästina des Jahres 1934: vom Ende her gesehen war ihre Empfehlung, Mirjam P. zur Behandlung nach Deutschland zurückzuschicken geradezu kriminell. Doch waren die Gutachten im Moment ihrer Abfassung nicht nur ein Beleg dafür, wie borniert und wenig einfühlsam Mediziner gegenüber lästigen, nicht angepassten jungen Menschen nun mal waren (und vielleicht auch heute noch sind?) In jenem "Freiraum" für eigene Gedanken, den Lampert dem Leser schaffen will, könnte einem noch einfallen, wie sehr "preußisch" die offenbar aus Deutschland emigrierten Gutachter in ihrer moralistischen Rigidität waren. Dieses "preußische" in einem deutschen Juden wird zum Hauptmotiv der Erzählung "Ein seltener Gerechtigkeitssinn".

    Dr. Karl L., Kaufmann und Bankier in Berlin, dekorierter ehemaliger Marineoffizier von konservativ-nationaler Gesinnung, hat an rechtzeitige Emigration offenbar nicht gedacht und wird 1941 nach Minsk deportiert. Trotz oder gerade wegen der grauenhaften Zustände im Minsker Ghetto bemüht er sich gleich, Ordnung zu schaffen, was ihm wegen eines gewissen Wohlwollens des Nazi-Chefs möglich wird. Widersacher des Chefs aus den eigenen Reihen prügeln L. schließlich fast zu Tode, doch er entkommt aus der Hölle von Minsk ins ihm vergleichsweise paradiesisch erscheinende Theresienstadt. Dort nimmt er, als Chef der jüdischen Ghetto-Polizei, einen teilweise grotesken Kampf gegen Korruption und Ungerechtigkeit aller Art auf, scheitert, aber überlebt.

    Das Aktenmaterial, das Lampert auch mit einem gewissen Sinn für tiefschwarze Komik montiert, drängt dem Leser die beunruhigende Frage auf, welchen Sinn es hat, in einer mörderisch ungerechten Situation für Recht und Ordnung sorgen zu wollen, und wieviel Kooperation mit den gewalttätigen Unterdrückern nötig und erlaubt ist. Eine Frage, die Lampert nur provoziert und nicht beantwortet. Unmissverständlich klar aber macht er, trotz seiner auf Moral-Wegweiser verzichtenden Erzählweise, dass Opfer auch dann Opfer sind, wenn sie Mängel und Schwächen haben. Das ist wichtig in einem Land, in dem immer noch ein Philosemitismus Unheil anrichtet, der nur edle, kluge und sympathische Juden kennt, und gerade dadurch Antisemitismus hervorruft, immer dann nämlich, wenn die falsche Erwartung enttäuscht wird, durch einen nicht gar so edlen, vielleicht sogar ziemlich abstoßenden Juden. Opfer also sind Opfer, auch wenn sie Fehler haben. Und die Täter? Lampert schildert drei, einer von ihnen entspricht am ehesten seiner Absage an ein starres Gut-Böse-Schema: Wilhelm K., Generalkommissar für Weißruthenien.

    K. ist jener Nazi-Chef von Minsk, dem Karl L. sein Leben verdankt. "Ein einziges Leben" hat K. gerettet, im übrigen ist er, der rabiate "alte Kämpfer" der NSDAP, mitschuldig am Tod zahlreicher Juden in Weißrussland. Aber doch einer, der in kein zeitgeschichtliches Schema passt: die deutschen Juden hält er nicht alle für todeswürdig, an jüdische Kinder verteilt er schon mal Bonbons, Mendelssohn-Bartholdy gehört für ihn zur deutschen Kultur, die Korruption und Unmenschlichkeit mancher SS-Führer hält er für widerlich und schließlich wird er, zur Schadenfreude seiner Widersacher in der Partei, von einer russischen Hausgehilfin in seinem Bett in die Luft gesprengt.



    Lampert fasziniert offenbar das Schräge solcher Lebensläufe, und er hat, wie gesagt, einen Sinn für schwarze Komik, auch bei den Tätern. Der SS-Obergruppenführer Erich von B., ebenfalls in Minsk tätig, ist ein Täter von extremer Widerwärtigkeit. Aber er ist auch, im direkten Sinn des Wortes ein armes Arschloch. Leidet er doch nach besonders treuer Pflichterfüllung, das heißt: Massentötung von Juden, heftig an Hämorrhoiden. Sollte in ihm ein letztes Restchen Gewissen gesteckt haben, das sich psychosomatisch in seinem Gedärm bemerkbar machte? Lampert jagt nach Randerscheinungen, die zu zentralen Fragen führen können. Sie machen jene Komplexität von Geschichte aus, die er mit dem Punktscheinwerfer erhellen will. Geschichtsschreibung im engeren Sinn betreibt er damit nicht, Literatur im traditionellen Verständnis aber auch nicht. Seine Texte nennt er zwar Erzählungen und literarisiert sie spielerisch, nicht nur durch die ironischen Überschriften, sondern auch durch die Verkürzung der Namen seiner Protagonisten auf die Anfangsbuchstaben, auch wenn es juristische Gründe dafür nicht gibt. Doch gleichzeitig tritt er in einem umfangreichen Anhang wie ein Historiker auf, führt peinlich genau die Quellen für alle Fakten auf, die er vorher zu "Geschichten" arrangiert hat. Der Historiker Christian Gerlach, der durch eine Studie über die deutsche Vernichtungspolitik in Weißrussland ausgewiesen ist, kritisierte, dass Lamperts Buch den "Eindruck naiver Dokumentengläubigkeit" erwecke, zumal der Autor in den Dokumenten enthaltene Verzerrungen und Fälschungen nicht ausdrücklich mitteile. Die Kritik läuft auf den Vorwurf hinaus, dass in "Ein einziges Leben" nur sozusagen das Papier aus den Archiven spricht und nicht das wirkliche Leben der Figuren. Das ist in der Tat so. Aber erschüttert es die Qualität der Texte? Wirkliches Leben hat noch in keinem Buch stattgefunden. Lampert bietet immerhin ein Maximum des Möglichen. Er hat wenigstens Spuren von Wirklichkeit in vertrauenswürdiger Weise so arrangiert, dass Vergangenes wieder schmerzhaft nachspürbar wird. Schmerzhaft, weil alles, was einmal Wirklichkeit geworden ist, weiter möglich bleibt, wie es im jüngsten Roman von Robert Menasse, "Die Vertreibung aus der Hölle", heißt. Das wäre dann doch noch vielleicht die Moral von der Geschicht', obwohl oder gerade weil Tom Lampert keine Wegweiser mag.

    Tom Lampert, "Ein einziges Leben. Acht Geschichten aus dem Krieg". Der Band ist im Carl Hanser Verlag, München, erschienen, hat 315 Seiten und kostet DM 42,--.