Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Tom Rachman: „Die Gesichter“
Im Dienste der Kunst

Mit einer aufreibenden Vater-Sohn-Geschichte untersucht der amerikanische Autor Tom Rachman in seinem Roman „Die Gesichter“ was es bedeutet, sein Leben voll und ganz der Kunst zu verschreiben. Seine Erkenntnisse sind erschütternd und erheiternd zugleich.

Von Raphael Smarzoch | 18.10.2018
    Buchcover: Tom Rachman: „Die Gesichter“
    Tom Rachmans neuer Roman „Die Gesichter“, eine ergreifende Vater-Sohn Geschichte aus der Welt der Kunst (Buchcover: dtv, Foto Tom Rachman: dtv/Alessandra Rizzo)
    Der Maler Bear vernichtet seine Bilder, wenn sie ihm nicht gefallen. Mit einer Schere zersticht er die frisch bemalte Leinwand, steckt sie in eine Öl-Tonne, übergießt die Leinwand mit Benzin und zündet sie an. Zerstörung schenkt ihm mehr Erleichterung, als Vollendung. In seiner Ästhetischen Theorie attestiert Theodor W. Adorno dem Kunstwerk, Todfeind des anderen vorhergehenden Kunstwerks zu sein. Jedes kreative Produkt sitzt am Grabe einer anderen schöpferischen Arbeit. Der Künstler befindet sich jedoch nicht nur in unmittelbarer Nachbarschaft zum Tode, sondern auch an der Gruft seiner Mitmenschen. Es gibt viele Schriftsteller, Maler und Dichter, die bestätigen, dass ihre Existenz etwas Todbringendes hat. Die ihnen nahestehenden Personen werden nach ihrem ästhetischen Nutzen ausgewählt. Sie vergehen bei lebendigem Leibe, missbraucht als Material, das die schöpferischen Kräfte des Künstlers mit ausreichend Treibstoff versorgt.
    Ein Panoptikum unstillbarer Triebe
    Dieses Schicksal stößt auch der jungen Töpferin Nathalie zu, die während eines Auslandsstipendiums in Rom den berühmten und deutlich älteren Maler Bear Bavinsky kennenlernt und sich in ihn verliebt. Die beiden heiraten. Für Nathalie ist das der Beginn eines lebenslangen Martyriums. Ein langsames Dahinsiechen im Schatten ihres gefeierten Mannes, der sie als Muse missbraucht und ihre künstlerischen Ambitionen nicht ernst nimmt. Ihr fällt bloß die Aufgabe zu, ihren gemeinsamen Sohn Charles zu erziehen. Bear, ein Mensch von animalischer Statur, wie es bereits sein Name signalisiert, bemächtigt sich in unerbittlicher Direktheit seiner Familie. Gleich mehrere hat er davon, ein Patchwork aus diversen Ehen, Liebschaften und den daraus hervorgegangenen Kindern, ein lüsternes Panoptikum unstillbarer Triebe, das selbst Pablo Picassos amouröse Ausschweifungen in den Schatten stellt. Die Art der Beziehung zu Charles Bavinsky, der liebevoll von Nathalie den Spitznamen Pinch aufgedrückt bekommt, wird bereits in den ersten Zeilen des Romans deutlich.
    "Bear Bavinsky tunkt seinen Kopf ins dampfende Wasser der kupfernen Badewanne und schüttelt den Bart aus, dass die Tropfen durchs Atelier fliegen. […] Pinch, sein fünfjähriger Sohn, stemmt ein dickes Badetuch in die Höhe, die Arme zittern unter dem Gewicht. Bear streift sich mit den Fingern durchs rotblonde, schüttere Haar und setzt – eine Hand auf dem Kopf des Jungen, Gleichgewicht suchend – seine Füße auf Tageszeitungen, auf denen früher am Tag Pinsel ausgewischt wurden. Die nassen Abdrücke bluten übers Papier […]."
    Diesen Ballast wird Pinch sein gesamtes Leben nicht abwerfen können. Im kindlichen Regress gefangen, will er stets dem Vater gefallen, hofiert und lobt ihn, verteidigt ihn gegen gierige Kunstsammler und neugierige Journalisten. Pinch möchte so sein wie Bear, bis zum Selbstekel, der ihn in Momenten der Reflexion über seine eigene Persönlichkeit erfasst. Die Unfähigkeit, aus der Umlaufbahn des Vaters herauszutreten, lässt seine Potentiale und Talente nur auf mühsamen Umwegen zur Entfaltung kommen. Auf diesen Umwegen wird Pinch in Armut leben, zahlreiche Enttäuschungen erfahren und in der Liebe gedemütigt werden. Am Ende dieses Leidenswegs wartet eine weitere Katastrophe. Rachman schildert diese qualvollen Ereignisse stets im optimistischen, manchmal sogar humoristischen Tonfall. Da wäre beispielsweise der Ausflug mit seinem Vater nach New York, der ihn in einem Luxushotel absetzt, um eine Geliebte zu besuchen und mit ihr am nächsten Tag im selben Hotel zu frühstücken. Pinch beobachtet die Szene von Weitem und bekommt bloß ein Kopfnicken zur morgendlichen Begrüßung von seinem Vater. Als er Jahre später mit seiner Freundin das französische Ferienhaus des Starmalers besucht, spannt ihm sein Vater beinahe seine Begleitung aus. Sie soll als Akt posieren, für Bear eine Form der Verführung im Dienste der Kunst.
    "Meine Liebe, ich bin fünfmal verheiratet gewesen, okay? Hört sich das an, als wäre ich ein Mann, der sich für das andere Geschlecht nicht interessiert? Außerdem habe ich niemals eine Frau nur gemalt, um sie dann flachlegen zu können. Verdammt, wenn ich mit Modellen ins Bett bin, dann nur, um sie besser malen zu können, und nicht anders herum."
    Die in dieser Äußerung süffisant vorgetragene Unschuld ist nicht ernst gemeint. Bear scheint eine perfide Lust an der Verhöhnung seiner Opfer zu empfinden. Er genießt das ungleiche Machtverhältnis, das aus dem Privileg entspringt, ein weltberühmter Maler zu sein. Assoziationen an die MeToo-Bewegung sind sicherlich kein Zufall, auch an anderer Stelle, am Beispiel der erfolglosen Nathalie, demonstriert Rachman die Alltäglichkeit sexistischer Übergriffe in der Kunstwelt des 20. Jahrhunderts – Grenzüberschreitungen, die auch heutzutage noch an der Tagesordnung sind.
    Vom Unglück geboren zu sein
    Auch wenn der Autor seine Leser in die luxuriöse Welt der Sammler entführt, seine Protagonisten über Caravaggio, Giacometti, Andy Warhol und die Pop Art nachdenken lässt, ist "Die Gesichter" dennoch keine Geschichte über die Kunst. Stattdessen schwingt in der Vater-Sohn-Erzählung ein weitaus düsteres Thema mit: Die Frage nach der Zumutbarkeit des Lebens und dem Sinn, überhaupt ins Leben zu treten, geboren zu werden. Angesichts des Leids, das Pinch durchstehen muss, reflektiert er immer wieder die Bedeutung seines Daseins und kommt zu einer pessimistischen Einsicht:
    "Er will lachen, doch seine Laune verdüstert sich, weil er fürchtet, kaum ein eigenes Leben gelebt zu haben."
    Vielleicht ist das der Grund, warum er selbst keine Kinder zeugt. Er bleibt auf Dauer ein einsamer Außenseiter, der immer im Schatten seines verehrten Vaters lebt und bis auf ein paar kurze Beziehungen zu anderen Frauen die größte Liebe in seiner Mutter findet, sie aber nicht zu erwidern weiß. Nathalie repräsentiert schließlich das genaue Gegenteil des Vaters: Unsicher, erfolglos, arm, sozial isoliert und von schweren Depressionen gezeichnet, driftet sie einsam daher, nachdem ihr Ehemann sie gegen eine jüngere Frau ausgetauscht hat. An diesen Stellen tunkt Rachman seine Erzählung in eine ambivalente Koloratur: Ist Pinch wirklich bloß nur ein Opfer oder trägt er etwa auch Schuld am traurigen Schicksal seiner Mutter?
    "Ich bin ein Angeber, ein Simulant, ein Versager. Pinchs schlimmste Ängste stürzen auf ihn ein: Ich werde nie wie mein Vater, weil ich schon immer wie meine Mutter war."
    Eine Antwort auf diese Frage liefert Rachman nicht. Stattdessen beobachtet er mit eiskalter Präzision. Das wirkt manchmal blutarm. Selbst dramatische Momente schildert der Autor nüchtern. Diese Art des Erzählens erinnert an Bears Gemälde, auf denen genaue Detailaufnahmen menschlicher Körperpartien zu sehen sind, allerdings nie ein Gesicht. Das ändert sich, als sich Pinch durch einen ausgefuchsten Trick der Kunst seines Vaters bemächtigt und für kurze Zeit dadurch imstande ist, den väterlichen Bann zu brechen. Dann nimmt auch die Geschichte wieder Fahrt auf, die bis dahin an manchen Stellen durchaus Längen aufweist. Ein paar Seiten weniger hätten der Erzählung durchaus gutgetan.
    Die Langzeitwirkungen väterlicher Einflussnahme
    Dennoch, "Die Gesichter" ist ein ausgezeichnetes Buch über die Langzeitwirkungen väterlicher Einflussnahme und gleichzeitig eine Abhandlung über die Konsequenzen des Kinderkriegens – ein Thema, das den Autor bereits seit seinem Debütroman "Die Unperfekten" beschäftigt. Es ist aber auch eine Geschichte über die schöpferische Kraft der Kunst und ihren zerstörerischen Sog, über kreative Besessenheit und die bittere Einsicht, dass Moral und Schönheit keineswegs zusammengehören müssen. Oder um es mit den Worten von Bear Bavinsky zu formulieren:
    "Ist man präzise oder ist man grausam? Das ist der Unterschied zwischen einem guten und einem großen Maler. Man kann nämlich unmöglich wahrhaftig und freundlich zugleich sein. Das geht einfach nicht."
    Tom Rachman: "Die Gesichter"
    aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben
    dtv, München. 416 Seiten, 22 Euro.