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Tomas Espedal: "Bergeners"
Im Spiegelkabinett des Ich

Verwandlungen, mal realistisch, mal traum- oder albtraumhaft: In der Textsammlung von Tomas Espedal geht es um die Fragilität von Identität und um den Wahrheitsgehalt von Literatur. Zugleich ist das Buch ein Porträt seiner hassgeliebten Heimatstadt Bergen.

Von Angela Gutzeit | 22.10.2018
    Buchcover: Tomas Espedal: „Bergeners“
    Stadtporträt von Bergen und literarische Selbstreflexion: Tomas Espedals "Bergeners" (Buchcover: Matthes & Seitz Verlag, Foto: picture alliance / dpa / David Stockman)
    Die zeitgenössische norwegische Literatur wird seit Jahren überstrahlt von ihrem Superstar Karl Ove Knausgård mit seinem literarischen Selbstfindungs- und -entblößungsprojekt "Mein Kampf". Es ist deshalb nicht ohne Witz und Hintersinn, wenn sein Schriftsteller-Freund Tomas Espedal schon auf den ersten Seiten seines neuen Buches erwähnt, dass er eines Tages vor dessen Erfolg die Flucht ergriff.

    "Ich war einer spontanen Eingebung folgend nach Madrid gereist, um dem Theater rund um Knausgårds Bücher in Norwegen zu entfliehen. Er hatte meinen Namen in Verbindung mit einem unerfreulichen Zwischenfall in meiner Wohnung genannt, und jetzt stand mein Telefon nicht mehr still, jede Menge Journalisten. Ich wusste bei keinem, was ich sagen sollte, also sagte ich, ich sei auf Reisen. Es war sowohl eine Lüge als auch die Wahrheit, ich versteckte mich in Madrid."

    "Der unerfreuliche Zwischenfall" findet erst später im Buch eine Erklärung: Knausgård soll angeblich bei einem Trinkgelage in Espedals Wohnung in Bergen eine Frau vergewaltigt haben. Vom Trinken und Rauchen ist hier überhaupt viel die Rede. Aber man achte auf diese Formulierung: "Es war sowohl eine Lüge wie auch die Wahrheit, ich versteckte mich in Madrid". Ist Espedal tatsächlich auf der Flucht vor dem Rummel um Knausgård oder doch eher wegen einer gescheiterten Liebensbeziehung? Denn wenige Absätze vorher befindet sich der Leser mit Espedal noch in New York. Bei einem Abendessen eröffnete ihm seine bedeutend jüngere Geliebte Janne, sie werde ihn verlassen.
    Schreiben als Selbstvergewisserung
    Nun ist das autobiografische Erzählen mit einem hohen Anteil von Klarnamenprosa und mit immer wiederkehrenden Zentralfiguren und Motiven ein durchaus konstituierendes Elemente der Espedal'schen Bücher. Ob in "Wider die Kunst", "Wider die Natur" oder in dem Band "Biografie, Tagebuch, Briefe" - umkreist werden immer wieder aufs Neue Verluste von geliebten Menschen und in qualvoller Selbstsuche das eigene Ich sowie das Schreiben als Akt der Selbstvergewisserung. Das ist in dem Band "Bergeners" nicht anders. Auch hier geben Wegmarken wie der Tod der Mutter, die Trennung von seiner Ehefrau, der Verlust der Geliebten und der Auszug der Tochter Anlass über Einsamkeit, Alter und Tod in großer Offenheit zu reflektieren - die Banalitäten des Daseins und der Alltagsbewältigung nicht aussparend.

    Und doch erscheint Espedals Wahrheits- und Offenbarungs-Bestreben zugleich in einem ganz anderen Licht, wenn man sich die Konstruktion seiner Prosa näher anschaut. Der Autor verknüpft verschiedene Textsorten miteinander: Erzählung, autobiografische Notiz, Tagebucheintrag, Gedicht. Was zunächst unvermittelt nebeneinander zu stehen scheint, greift in weiteren Verlauf des Buches auf der inhaltlichen Ebene ineinander. Dabei spielen bestimmte Motive, man kann auch sagen "Signalwörter", eine zentrale Rolle wie "verschwinden" und "verwandeln". So befindet sich Espedal beispielsweise - oder ist es eben nicht doch eher sein Erzähler-Ich? - im Hotel in Madrid, um festzustellen:
    "Ich meine, allmählich ähnelte ich einem beliebigen Mann, der an seinem Tisch sitzt und allein isst, allein trinkt, freilich bin ich nie allein, wenn ich dieses Gefühl von Zusammengehörigkeit habe, auch von Zugehörigkeit: Man findet seinen Platz, und dort verschwindet man, so unauffällig es geht."

    Um dann abrupt zu einem berühmten Kafka-Zitat überzuwechseln:

    "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheureren Ungeziefer verwandelt"
    Ein Spiel mit literarischen Identitäts-Optionen
    Und an dieses Kafka-Zitat schließt unvermittelt ein längerer Exkurs über einen jungen Mann an, der sich im weiteren Verlauf als der Massenmörder Anders Breivik entpuppt, dessen Name allerdings ungenannt bleibt.

    "Er will etwas anderes, er wünscht sich eine größere Veränderung. Er hat sich immer ein anderes Gesicht gewünscht, einen anderen Körper und andere Kleidung, alles andere als das Gesicht und das Leben, mit denen er gezwungenermaßen herumläuft, doch jetzt befindet er sich endlich in Veränderung, er ist kurz davor ein anderer zu werden."

    Diese Verwandlungen, man kann auch sagen Überblendungen, mal realistisch, mal traum-, mal albtraumhaft, finden sich in diesen Texten immer wieder. Sie greifen ineinander - von einer Figur zur anderen, von einem Ereignis zum anderen - oder korrespondieren miteinander an verschiedenen Stellen des Buches. Um schließlich ihren Höhepunkt, wenn man so will, fast genau in der Mitte des Buches zu finden. Im titelgebenden Kapitel "Bergeners" geht Espedal mit einem befreundeten Schriftstellerkollegen durch die Straßen seiner Heimatstadt Bergen und räsoniert über Literatur, genauer: Darüber, was ein gutes Gedicht ausmachen sollte.

    "Nichts als realistische Beschreibungen, so müssen wir schreiben, sagte ich. Wir dürfen uns nicht in einem Gedicht und einem konstruierten Universum verlieren, in falscher Literatur, was wir schreiben, muss wahr sein, wir müssen das Wirkliche mit all unserem Ernst und all unserer Kraft beschreiben, sagte ich."
    Aber der Freund antwortet nicht, sondern verwandelt sich, seine Haare werden dunkler, das Gesicht strenger, sein Hut schrumpft. Diese surreale Szene ist ein wunderbares Beispiel für Tomas Espedals Spiel, das er hier mit Wahrheit, Realitätsgehalt, Verwandlung und Täuschung von, mit und in Literatur betreibt. Und um es noch mehr auf die Spitze zu treiben: Eine halbe Seite vorher lässt der Autor eine "eigentümliche Gestalt im Regen" durch Bergen spazieren.
    "Hochgewachsen wie ein Stelzvogel; er geht mit langen Schritten, das linke Bein hinkt ein wenig. Spazierstock, dicke Halbbrille, hoch in der Stirn der Hut. Ist man aus irgendeinem Grund gezwungen, ihn zu stören, ihn mit Handschlag zu begrüßen, so stellt er sich als Herr Joyce vor."
    Ein gewisser Herr Joyce
    Um diesen kurz erwähnten Herrn Joyce sind verschiedene Figuren gruppiert, die in ihrer Gewöhnlichkeit oder Skurilität das Milieu der hassgeliebten Stadt Bergen ausmachen, ähnlich wie bei James Joyce in seinem Roman "Dubliners". Diese Figuren mögen authentisch sein oder nicht. Das spielt eigentlich keine Rolle. Man begreift, dass Espedal den irischen Kollegen, der sich bei näherem Hinsehen als Schattenfigur des gesamten Buches herausstellt, aufruft, um anzudeuten, dass er in diesem Buch vor allen Dingen über Form und Wesen von Literatur, über Schreiborte und Schreib-Bedingungen, über die existenzielle Abgründigkeit des Schriftstellerseins in seiner ganzen Unausweichlichkeit, mit seinen Zwängen, Verlusten und auch Glücksmomenten schreibt.

    Offensichtlich fühlt er sich Joyce und dessen autobiografischen Dublin-Bezügen wie seinem Stilprinzip der verschiedenen Motiv-Texturen so nahe, dass er in "Bergeners" sogar Szenen aus Joyce "Dubliners" indirekt zitiert, indem er sie in verwandelter Form in den eigenen Kontext einbaut. Bei Joyce wird zum Beispiel am Schluss von "Dubliners" die Versöhnung eines getrennten Ehepaares angedeutet, bei Espedal in seinem Buch "Bergeners" die zwischen ihm und der Geliebten Janne. Aber auch das ist nur ein Spiel und der Verwandlungskunst der Literatur geschuldet.

    Tomas Espedal versteht es meisterlich, in verknappter und verdichteter Form die eigene Existenz als Material zu nutzen. Nicht, um darin zu versinken oder sich darin zu suhlen, sondern um Erkenntnisse aus deren Abgründigkeit und Unfassbarkeit hervorzutreiben. Das hat Espedal seinem Freund Knausgård auf jeden Fall voraus.
    Tomas Espedal: "Bergeners"
    Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
    Matthes & Seitz Verlag, Berlin. 156 Seiten, 20 Euro